: Verlorenes Gebiet
St. Georg zwischen Resignation und Kampfgeist, Prostitution und Drogen: Die amtliche Säuberung des Hauptbahnhofs hat dem Stadtteil neue Probleme beschert. Aber kein einziges gelöst. Ein Report
von ELKE SPANNER
Einzelzimmer, Doppelzimmer. Auch Frühstück gibt es, lockt das Neonschild, aber über Nacht ist Roswitha noch nie geblieben. Sie geht immer stundenweise ins Hotel. So lange, wie der Freier braucht. So oft, wie sie braucht, um den Stoff für einen Tag zusammenzubekommen.
Sie steht eine Ecke weiter, hier kennt man sie. Neben ihr die hochhackigen Schuhe, die auf Dauer so unbequem sind. In die schlüpft sie nur schnell, wenn sich ein Mann mit musterndem Blick nähert, wenn einer kommt, der Beine, Po und Busen schon von weitem inspiziert. Dann nimmt sie Haltung an. Lächelt und versucht einen Augenaufschlag, wie sie ihn aus Spielfilmen kennt. Bei ihr soll er stehen bleiben, nicht bei einer der vielen anderen in den Hauseingängen, vor den Bars und „Import-Export-Läden“ rund um den Hansaplatz.
Vor allem durch die Beschaffungsprostitution ist sie sichtbar, die Szene. Schon seit Ende der 80er Jahre und auch heute noch. Trotz Olaf Scholz und Ronald Schill, trotz Handlungskonzept St. Georg, Regierungswechsel und Brechmitteleinsätzen. Nicht ein Junkie ist von seiner Sucht runtergekommen, weil Schill seit kurzem Innensenator ist, viele hier wissen das nicht mal. Es wird weiterhin geraucht und gespritzt, und wo die Süchtigen sind, da sind auch die Dealer. Immer noch gibt es die zwangsläufige Verbindung zwischen Handel und Konsum, auch wenn sie direkt hinter dem Hauptbahnhof, am Hachmannplatz, nicht mehr durch Menschentrauben sichtbar ist.
Dort hat sich in der Tat in den vergangenen Monaten einiges getan. Klassische Musik, wo früher nur Autolärm zu hören war. Ein Pissoir, wo Uringeruch PassantInnen vorbeihasten ließ. Ein paar Grüppchen von Alkoholikern, wo sich früher 20, 30 Menschen getroffen haben. In flachen Containern die Sicherheitswache, ständig sichtbare Präsenz der Polizei. Zusätzlich Patrouillen mit jeweils zwei BeamtInnen, zusätzlich Angestellte der „Bahn-Sicherheitsgesellschaft (BSG)“ und viele Reisende. Für deren Wohlbefinden wird das Ganze schließlich inszeniert.
Auch die BewohnerInnen von St. Georg wissen, dass die Menschentrauben, die sich hier immer versammelten, ein Problem waren für die Reisenden. Dass gerade Frauen sich oft unbehaglich fühlten, wenn sie über den Hachmannplatz zum Taxi oder Bus mussten. Trotzdem haben sich die beiden Anwohnervereine immer wieder gegen die Vertreibung der Szene vom Bahnhof ausgesprochen. Trotzdem steht man hier nicht zu Schill, von den AnwohnerInnen rund um Hauptbahnhof und Hansaplatz hat er bei der Wahl weit weniger Prozente bekommen als im Hamburger Durchschnitt. Besser, die Szene ist hier als in unseren Wohnstraßen, lautet die Meinung der BewohnerInnen. Es fragt sie nur niemand danach.
Jetzt soll im ehemaligen „Wüstenrothaus“ zwischen Kurt-Schumacher-Allee und Besenbinderhof ein „Drogenzentrum“ entstehen, bestehend aus den Fixerstuben „Drob Inn“ und „Fixstern“ sowie den Übernachtungsstätten „Realex“ und „Nox“. Auch das hat sich ein Senator am Schreibtisch überlegt, ohne Rücksprache mit dem Quartier. Dort schwankt man zwischen Resignation und neuem Kampfgeist. In der Tat ist das Wüstenrothaus optimal gelegen: Fernab der Wohngebiete, der einzige Nachbar ist der DGB, der hat die Junkies in der Umgebung schon immer toleriert. Die sind hier fast außer Sichtweite, „und wenn das der Szene nützt“, sagt Michael Joho vom Einwohnerverein St. Georg, „warum nicht“. Deshalb hatte das Drob Inn selbst vorgeschlagen, in das mehrstöckige Gebäude umzuziehen. Im Viertel war man sich einig, das ist ein gutes Projekt. So aber hatte man sich das nicht vorgestellt. Der Senat will noch den „Fixstern“ vom Schanzenviertel ins Wüstenrothaus verlagern, die Schanze wäre dann ohne Drogenhilfe, und in St. Georg würden sich noch mehr Junkies niederlassen als jetzt schon. „Chaos“, prophezeit Joho.
Viele Süchtige treffen sich zwar beim Drob Inn, nutzen wegen chronischer Überfüllung aber auch die Grünanlagen ringsum für ihren Konsum. Die beiden Männer zum Beispiel, die auf der Rückseite der grauen Container hinter einem Busch gekauert versuchen, eine Crackpfeife anzuzünden, mehrfach blitzt ein Feuerzeug. Eine junge Frau mit strähnigem Haar kommt hinter einem Baum hervor. Sie zieht ihren Ledergürtel zurecht. Sie musste in die Leiste spritzen, an den Armen sind die Venen schon lange kaputt.
Hinter dem Wüstenrothaus, in Richtung Hammerbrook, kommt man in ein Quartier, das Joho „ein verlorenes Wohngebiet“ nennt: Das Münzviertel. Er prophezeit, dass sich die Drogenszene noch mehr dorthin zurückziehen wird, wenn erst die Junkies aus St. Georg und dem Schanzenviertel im „Wüstenroth-Haus“ die einzige Anlaufstelle finden. Leere Ampullen und Tablettenschachteln säumen schon jetzt den Weg durch eine schmuddelige Unterführung, am Ende des Tunnels zwei einzelne Strassen, die ein Wohngebiet bilden. Bis zum 2. Weltkrieg haben diesseits der Gleise 60.000 Menschen gelebt, im Hamburger Feuersturm 1943 wurden die Wohnblocks in Hammerbrook zerstört. Das Münzviertel ist übrig geblieben, eingepfercht zwischen Gleisanlagen und Spaldingstrasse. Man hat es sich sogar ein bisschen gemütlich gemacht in der „Münzburg“, einem historischen Wohnhaus unter Denkmalschutz. Die MieterInnen haben ihre Balkone liebevoll begrünt. Im vorigen Sommer aber haben sie doch kapituliert und einen Gitterzaun vor den Hof gesetzt. Die Drogenszene ist immer mehr auf diese Seite der Gleise herübergewandert, seit Scholz und dann Schill ihr den Hauptbahnhof so unwirtlich machten. Es nervt, ständig Spritzbesteck auf dem Hof vorzufinden. Der Zaun ist dagegen ein klares Signal.
Mehr allerdings auch nicht. In einer schattigen Ecke des Hofes sitzt ein älterer Mann auf seinen Gehstock gestützt, Siesta-Zeit. Und unter seinen Augen auf dem Boden vor der Haustür ein junges Paar, sie kramt in ihrer Handtasche nach dem Feuerzeug, er macht die Crack-Pfeife zurecht. Das Tor im Gitterzaun, durch das sie gekommen sind, haben sie offen stehen lassen.
Ähnliche Bilder bieten sich in den Wohnstraßen rund um den Hansaplatz, das Herzstück St. Georgs. Joho wohnt seit fast 20 Jahren in der Straße Koppel und weiß: Trifft er auf Junkies in seinem Hauseingang, ist gerade eine Razzia am Hauptbahnhof. Die Leute halten sich nicht mehr in großen Gruppen auf, sondern zu zweit oder zu dritt. Das aber rund um die Uhr, vor allem nachts ist es laut. Tagsüber strahlt der Hansaplatz mit dem Brunnen in der Mitte, dem Kopfsteinpflaster und den hohen Bäumen Gemütlichkeit aus. Nachts zum Schlafen machen die AnwohnerInnen ihre Fenster zu.
Nur wenige Meter entfernt sitzt man in Bars wie dem „Gnosa“ oder „Kyti Voo“ und in einer ganz anderen Welt. St. Georg ist Armutsviertel und Nobelwohnort zugleich. In der Langen Reihe sind einige Wohnhäuser luxussaniert, das Publikum in den Cafés ist schick, und zwei ältere Damen, die mit einem Pudel an der Leine spazieren, tragen Hut. Großstadtflair. Geschäftiges Treiben in den Läden, Milchkaffee in der Mittagspause. Die Schmilinskystraße führt linker Hand zur Außenalster, zu Stadtvillen und 5-Sterne-Hotels, rechts zum „Babystrich“. Der ist weniger sichtbar als noch vor wenigen Jahren, doch noch heute steigt das Verkehrsaufkommen zur Mittags- und Feierabendzeit merklich an. Das war schon so, ehe sich Ende der achtziger Jahre die Drogenszene in St. Georg niederließ.
Nach dem Krieg hatte sich in St. Georg ein Hausfrauenstrich etabliert, Prostitution von Müttern, die für die Haushaltskasse etwas dazuverdienen mussten. Deren Plätze wurden immer mehr von Drogensüchtigen bezogen. Hier war Prostitution akzeptiert, hier prügelte niemand die Frauen weg, die ihren Körper für Drogen anboten. In St. Pauli hingegen wurden sie nicht geduldet, die „Drogenmädchen“ machten die Preise kaputt.
Immer mehr ist es allerdings auch umgekehrt, der Beschaffungsdruck ist den Mädchen oft schon körperlich anzusehen. Durch die massiven Polizeikontrollen müssen sie unter schwierigeren Bedingungen das gleiche Geld heranschaffen und sind ihren Freiern deshalb immer mehr ausgeliefert. Ruth Lobeck, Ärztin in der Einrichtung für drogenabhängige Mädchen „Ragazza“, konstatiert bei ihren Patientinnen deutlich mehr Spuren von Gewalt, Würgemale und Blutergüsse. Zugenommen hat auch der Druck, den Freiern für Geld alles zu bieten, was sie wollen. Ungeschützten Sex zum Beispiel.
Roswitha hatte gerade so einen, „und jetzt hab ich keinen Bock mehr, echt“, schimpft sie, lässt sich in einen weißen Plastikstuhl vor „Ali Baba‘s Imbiss“ fallen und nimmt einen Schluck Alsterwasser aus dem Glas eines Bekannten, der dort auf sie gewartet hat. „Der Alte wollte ohne Gummi, hätte er auch vorher sagen können.“ Sie also mit ihm in den „Blauen Engel“, da erst hat er gesagt, was er will, „der alte Sack“. Aber was soll‘s, auf dem Zimmer waren sie ohnehin schon, und das Geld hat sie gebraucht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen