documenta_11 spot: Constants Architekturvision „New Babylon“
Wunsch- statt Wohnmaschine
Eine „unfunktionale Stadt für nicht arbeitende Menschen“ scheint der Albtraum eines jeden Städteplaners und Sozialarbeiters zu sein. Eine Gesellschaft jedoch, die sich von der Utopie der Vollbeschäftigung verabschieden muss, sollte die Idee des Künstlers Constant Anton Nieuwenhuys, kurz Constant, ernsthaft überdenken. Okwui Enwezors documenta bietet die Gelegenheit dazu und erinnert an Constants visionäres Architekturprojekt „New Babylon“.
Die Modelle, Gemälde, Zeichnungen und Landkarten des inzwischen 82-jährigen Niederländers befinden sich im Obergeschoss des Kulturbahnhofs, wo sie großzügig aufgebaut sind. Ihre düstere, fahle Ausstrahlung lässt zunächst an alles andere denken als eine Stadt, die den Bedürfnissen ihrer Bewohner freundlich entgegenkommen sollte. Doch selbst Umweltgeräusche und Wetter – je nach Wunsch – hatte Constant in den sich ständig verändernden, labyrinthisch verschachtelten Sphären seiner Zukunftsstadt vorgesehen.
Fast zwanzig Jahre, zwischen 1956 und 1974, widmete sich das frühere Gründungsmitglied der Künstlergruppe Cobra der Entwicklung seiner Metropole, die sich wie eine neue Zivilisationsstufe auf Stelzen quer durch alle Länder ziehen sollte: eine abstrakte Metaebene über den alten Kulturlandschaften, deren geplanter Verlauf auf den bearbeiteten Karten im Kulturbahnhof zu sehen ist.
Im Übrigen können die Modelle nur einen begrenzten Eindruck vom obersten Gebot der Dynamik in „New Babylon“ geben. Constant benutzte sie oft als Vorlage für seine Diashows, in denen er seine Vision des sich unablässig neu strukturierenden und überlagernden urbanen Raums nachgerade filmisch animierte.
Die prophetische Konzeption einer flexiblen Metropole für den flexiblen Menschen lässt sich dennoch nicht übersehen. Ihre vernetzte, ephemere Struktur (seine Modelle baute Constant häufig aus Plexiglas und dünnen Metalldrähten) drängt auch Analogien zu einer digitalen Kunstwelt auf.
„New Babylon“ ist die Cybercity par excellence. Sie ist von den Kybernetiktheorien Norbert Wieners und der mobilen Architektur von Buckminster Fuller geprägt. Umgekehrt wirkte Constant auf Medientheoretiker wie Paul Virilio und Architekten wie den umtriebigen Rem Koolhaas und seine urbanen Extra-Large-Visionen zurück. Interessanterweise blieb Constant – anders als der ebenfalls auf der documenta vertretene utopistische Urbanist Yona Friedman, der tatsächlich in die Architektur überwechselte – seinem skulpturalen Modellbau treu.
Arbeitslose müssen die Erfahrung machen, dass sie ihre Identität auf etwas ganz anderes gründen müssten, so Richard Sennett in „Der flexible Mensch“. Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung beförderten eine Erfahrung, „die in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet“. Constant und die Internationalen Situationisten, denen er von 1957 an zugehörte, hatten ihr Konzept einer rastlos umherschweifenden Zukunftsgesellschaft ihrerseits schon aus einer radikalen Kritik an der bürgerlichen Arbeitswelt entwickelt.
„New Babylon“ sollte sich als ein Ort entfalten, in dem sich die Bewohner ganz dem freien Spiel und ihrem Begehren widmen könnten. Dies richtete sich gegen die moderne Stadt als „Wohnmaschine“, die ihre Bewohner versklavt, und ließ sie im Deleuze’schen Sinne viel mehr als „Wunschmaschine“ neu entstehen.
Trotzdem herrscht keine glückliche, humane Atmosphäre in Constants Entwürfen vor. Wie in den Bildern der Surrealisten, von denen er sich in seiner Palette mit entweder sehr gedeckten oder grellen Farben beeinflusst zeigt, verselbstständigen sich albtraumhaft die Strukturen. Zwischen kubistisch aufgebrochenen Wänden, Streben, Stelzen und Leitern sind die Bewohner als Schemen oder Schatten bestenfalls angedeutet.
Als sich Constant in den frühen 70er-Jahren wieder vermehrt der menschlichen Figur zuwandte, zeigte er sie schmerzlich rau und unerlöst. So ähnlich hatte Cobra direkt nach dem Krieg gemalt. Die Verlierer der aktuellen Verteilungskämpfe könnten dies vielleicht verstehen. HENRIKE THOMSEN
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