: Ein wenig anders gesunden
Die anthroposophisch orientierte Medizin versteht sich als Ergänzung zur Schulmedizin. Eine Verbindung beider Ansätze kann auch Patienten helfen, die als „austherapiert“ gelten
von SARINA STÜTZER
Wenn die traditionelle Schulmedizin mit ihrem Latein am Ende ist, kommt für viele Patienten der Zeitpunkt, nach Alternativen zu suchen. Aus einer Fülle von Heilmethoden kann sich der Patient die aussuchen, die ihm geeignet erscheint. Ob alle halten, was sie versprechen, mag bezweifelt werden. Dass die anthroposophische Medizin einige Erfolge vorweisen kann, ist hingegen eine Tatsache.
Anders als bei einigen anderen Verfahren schließen sich Schulmedizin und anthroposophische Medizin nicht aus. Vielmehr arbeitet die anthroposophische Medizin auf der Basis der Schulmedizin. Allerdings betrachten anthroposophische Mediziner nicht die isolierte Krankheit alleine, sondern den ganzen Menschen – wer Wert auf diesen Ansatz legt, muss also gar nicht bis in den fernen Osten pilgern. Die Anthroposophen selbst bezeichnen ihre Richtung als Erweiterung der naturwissenschaftlich-technischen Medizin um das Geistige.
„Für mich geht es darum, an den Grenzen, die einem die Schulmedizin setzt, nicht stehen zu bleiben, sondern sich zu fragen, wie könnte es weitergehen“, erläutert Gisela Berger, anthroposophisch arbeitende Internistin aus Berlin. „Gerade bei schweren Erkrankungen ist dem Patienten selbst häufig schon klar, dass es nicht nur alleine um die eine kranke Körperstelle geht.“
Das anthroposophische Menschenbild teilt den Körper in vier Wesensglieder ein: den physischen Leib, den ätherischen Leib, den Astralleib und das Ich. Klingt ziemlich esoterisch, bildet aber die Basis dafür, in Diagnose und Therapie nicht nur den materiellen Körper, sondern auch andere Einflüsse einzubeziehen.
„Diese Unterscheidung ist ziemlich schwer zu verstehen“, meint Dr. Marie-Dominique Fernow, Pressereferentin des Dachverbandes für anthroposophische Medizin in Deutschland. „Man kann sie vereinfachen, in dem man von Körper, Geist und Seele spricht, die in der anthroposophischen Medizin berücksichtigt werden. So wird der ganzheitliche Ansatz deutlich.“ Entsprechend unterscheiden sich die Therapiemethoden von der Schulmedizin. Antroposophisch arbeitende Ärzte behandeln ihre Patienten etwa mit künstlerischen Therapieformen wie Malen, Modellieren, Singen, Sprechen oder Heileurythmie. Letztere kann als Verbindung zwischen Bewegung, Gebärden, Worten und Lauten bezeichnet werden. Die Auseinandersetzung mit Farben, Formen, Klängen und Sprache soll, vereinfacht ausgedrückt, die Eigenaktivität des Patienten stärken und Prozesse in Gang bringen, die Ungleichgewichte zwischen den Komponenten Körper, Geist und Seele – die als die eigentlichen Krankheitsursachen gelten – ausgleichen können.
„Diese Therapien sind die besondere Stärke der anthroposophischen Medizin“, sagt Fernow. „Wir unterstützen und begleiten den Patienten, solange er krank ist, aber er ist nicht ausgeliefert, sondern versteht, dass er selbst derjenige ist, der sich am besten helfen kann.“ Nach anthroposophischen Gesichtspunkten und Richtlinien hergestellte Medikamente, die aus dem Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich stammen, bilden die Grundlage der Therapie. Da der jeweilige Mensch im Mittelpunkt der Behandlung steht, werden Medikamente und Therapien unter Berücksichtigung der persönlichen Gesamtsituation ausgesucht. Hier findet sich ein weiterer Unterschied zur Schulmedizin, deren Verfahren unter anderem darauf beruhen, möglichst viele gleichartige Fälle zu vergleichen und daraus Therapieschemata zu entwickeln. Übrigens ein Ansatz, der allein deshalb problematisch ist, weil er als „Norm“ den männlichen Körper voraussetzt, den etwas mehr als die Hälfte der Menschheit nun einmal nicht besitzt. Anthroposophisch arbeitende Ärzte können nicht alle Krankheiten heilen. Häufig können sie Patienten aber bei Fällen Linderung oder Heilung verschaffen, die von der Schulmedizin als austherapiert aufgegeben wurden. Da anthroposophische Medizin nur von approbierten Ärzten praktiziert wird, hat der Patient außerdem die Gewissheit, dass Arzt oder Ärztin seiner Wahl eine lange Ausbildung durchlaufen haben. „Die anthroposophische Medizin ist keine Alternative zur Schulmedizin, sondern eine Ergänzung“, erklärt Fernow. „Wenn es notwendig ist, bekommt ein Patient auch bei uns Antibiotika.“ Mit Sicherheit haben die Anthroposophen keine Allheilmittel anzubieten, bisher kann dies aber auch sonst niemand von sich behaupten. So bleibt es also den Patienten überlassen zu entscheiden, ob eine fernöstlich-exotische, eine naturwissenschaftlich-schulmedizinische, eine anthroposophische oder eine ganz andere Art der Behandlung infrage kommt. Individuelle Freiheit fürs Individuum sozusagen.
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