: Der Ärger um den Tintenklecks
aus Srinagar BERNARD IMHASLY
Es war ein eher unüblicher Tagesbefehl. Die Soldaten, die das Haus von Rashida Qazi am Morgen des 24. September betraten, waren nicht auf der Suche nach versteckten Terroristen, wie es im indischen Bundesstaat Kaschmir häufig geschieht. Das Militär ging vielmehr von Haus zu Haus, um die Bürger für die Regionalwahlen zu mobilisieren. „Sie drohten mit ihren Gewehren und trieben uns aus der Tür“, berichtet Rashida Qazi. Wie ihrer Familie erging es an diesem Tag den meisten Einwohnern des Dorfs Kalihama im Bezirk Beerwah, einem laut Armee „von Militanten infizierten Bezirk“ in Nord-Kaschmir. Sie wurden mit Stöcken in Richtung Schulhaus gedrängt, in dem das Wahllokal eingerichtet war. Zuvor zwang der zuständige Offizier den jungen Prediger Altaf, beim Morgengebet über die Lautsprecher der Moschee alle zur Stimmabgabe aufzufordern.
Die Militäraktion hat nicht etwa der Wahl eines Diktators gedient, der sich das Feigenblatt einer 90-Prozent-Zustimmung zulegen will. Die ausgeklügelte elektronische Wahlmaschine im Unterrichtsraum der Schule, die hinter einer aufgeklappten Kartonschachtel die Wahlurne darstellt, gibt dem Bürger eine wirkliche demokratische Auswahlmöglichkeit. Unter den sechs Wahlsymbolen, darunter Flugzeug, Pflug, Tintenfass, kann er mit einem Drücken des richtigen Knopfs auch Parteien wählen, die die Präsenz der indischen Armee in Kaschmir ablehnen. Der indischen Regierung geht es darum, bei den Regionalwahlen in vier Etappen der Welt zu beweisen, dass in Kaschmir trotz des militärischen Belagerungszustands demokratische Wahlen möglich sind. Da ist eine hohe Wahlbeteiligung wichtiger als Parteipräferenzen. Und militärischer Druck wirksamer als fromme Aufrufe.
Die Regionalwahlen laufen einigermaßen paradox ab. Charangam ist nur einige Dörfer von Kalihama entfernt, und auch dort schwingen die Sicherheitskräfte am 24. September die Schlagstöcke. Aber diesmal nicht, um die Wähler zu den Urnen zu treiben, sondern um sie von diesen zurückzudrängen und im enthusiastischen Gedränge vor dem Wahllokal Ordnung zu schaffen. Durch Baumriesen hindurch sind die Reisfelder zu sehen, und ihr sattes Goldgelb zeigt an, dass die Ernte überfällig ist. Dennoch warten hunderte im Schatten der Bäume geduldig auf die langsame Prozedur: die Überprüfung im Wahlregister auf der Freitreppe, die Leibesvisitation am Eingang, drinnen dann der Tintenklecks auf der Nagelkuppe des rechten Zeigefingers, der Daumenabdruck im Stimmbuch, schließlich der Gang in die Zimmerecke. Die Männer stehen dicht hintereinander, die Frauen kauern auf dem Boden. Zwei Stunden nach Beginn der Wahl haben bereits 362 der 1.105 eingeschriebenen Wähler den Knopf neben ihrem Wahlsymbol gedrückt.
Ein Dorf weiter, in Chandpora, wird das demokratische Paradox um eine Spezialität bereichert. Dort winden sich vier Reihen über die Böschung zum Schulhaus hinauf. Die Anhänger von zwei Kandidaten sind sich in die Haare geraten. Als Warnschüsse und Gewehrkolben nichts nützen, trennt die Polizei die Streithähne in zwei Kolonnen, jede wiederum in eine männliche und weibliche aufgespalten. Mohammed Malik, ein unabhängiger Kandidat auf einem Kontrollgang durch die Wahllokale, hat Mühe, angesichts dieser eindeutigen Verhältnisse weiterhin Optimismus zu verbreiten. Die Polizei hat es nicht für nötig befunden, für seine wenigen Wähler eine Extrakolonne aufzustellen. Er beklagt sich über die Zahl der Wahlagenten der beiden favorisierten Parteien im Innern des Wahllokals, die darüber wachen, dass die Gegenpartei der Kartonschachtel in der Ecke nicht zu nahe kommt und etwa die Hand eines Wählers zum richtigen Druckknopf führt.
Stockschläge und Wahlabstinenz im einen Dorf, Stockschläge und Enthusiasmus im andern – wie lässt sich das Paradox erklären? Im sunnitischen Dorf Kalihama folgen die Einwohner dem Boykottaufruf der separatistischen „Hurriyat“, der größten politischen Muslim-Koalition Kaschmirs. „Wir wollen nicht Wahlen, sondern Azadi – Freiheit“, schreihen die jungen Männer, die sich vor den Soldaten auf die Hauptstraße geflüchtet haben. Auch in Charangam und Chandpora sind die meisten für Azadi. Dennoch haben beide Dörfer gute Gründe, sich erst einen Tag später um den Reis zu kümmern. Im ersten Ort kandidiert ein Mann namens Zarfaraz Khan für den Sitz im Parlament. „Er ist ein guter Politiker“, sagt ein alter Mann in der Menschenschlange. „Er hilft uns, wenn wir Schwierigkeiten mit den Sicherheitskräften haben.“ Immer wieder würden junge Männer von der Armee oder der Sonderpolizei abgeführt. „Sie werden verdächtigt, mit den Gotteskriegern zusammenzuarbeiten“, sagt die Wahlbeobachterin Dilafroz Bhatt. In Wirklichkeit sei es aber meistens Erpressung. Sie würden einfach als Pfand genommen und müssten freigekauft werden. Der Bauer stimmt ihr zu: „Khan hat gute Beziehungen zur Armee. Aber er hilft auch, wenn wir unseren Bewässerungsanteil nicht erhalten. Er interveniert dann beim Bezirksverwalter.“
In Chandpora im benachbarten Badgam-Bezirk bedarf es weder Peitsche noch Zuckerbrot, um die Wähler zu mobilisieren. Das Dorf liegt in einem Schiiten-Gürtel, und die Schiiten folgen der Wahlempfehlung ihres religiösen Führers. Nur gibt es bei dieser Wahl eine Komplikation, und sie erklärt den Polizeieinsatz und die vier Warteschlangen. Im Badgam-Wahlkreis kandidieren gleich zwei Schiiten, und beide streiten um die religiöse Führung. Beide stammen aus derselben Familie – Agha Mehmood und Agha Ruhullah sind Onkel und Neffe. Mehmood war in der letzten Regierung des Staates Minister, doch diesmal hat ihn die Regierungspartei National Conference nicht mehr aufgestellt. Im Zorn hat er die Partei verlassen und ist als Unabhängiger angetreten. Mehmood hat vor zwei Jahren den Mantel des „Imam“ von seinem Bruder Agha Mehdi übernommen, nachdem dieser einer Landmine zum Opfer gefallen war. Er ist sicher, dass die Schiiten seinen Parteiwechsel mitvollziehen und für ihn stimmen werden.
Die Regierungspartei musste rasch einen Ersatz finden, und zwar einen Schiiten. Sie fand ihn in Agha Ruhullah, Neffe Mehmoods und Sohn des verstorbenen Mehdi. Er war zwar erst 19 Jahre alt, doch dies ließ sich richten, die Partei war schließlich nicht umsonst an der Macht. Ruhullah wurde aus der Schule genommen, ließ sich einen Bart wachsen, und bald lag ein Schulzeugnis vor, das seinen Geburtstag auf 1976 datierte. So ist Ruhullah heute just 26 und hat das Mindestalter für eine Wahlkandidatur. Nun musste die Partei noch den Vorteil Mehmoods als Imam kontern. Sie fand einen Ausweg, indem sie ihn nach Iran schickte, wo er mehrere Wochen im Umkreis des „Groß-Imams“, Ajatollah Ali Chamenei, verbrachte. „Onkel Mehmood ist nur der Imam, und er ist dem Groß-Imam unterstellt. Und dieser hat mir seinen Segen gegeben.“ Der Streit vor dem Wahllokal in Chandpora ist handgreiflich geworden, als Mehmoods Anhänger die Jünger Ruhullahs verspottet haben, dieser sei ja noch ein Kind.
Zum Glück hat die separatistische Hurriyat-Koalition den Wahlboykott erklärt, sonst wären in Chandpora am 24. September möglicherweise sechs Kolonnen gestanden. Ein weiterer Onkel Ruhullahs, Agha Hassan, macht nämlich ebenfalls die spirituelle Führerschaft geltend, aber seine Partei ist Mitglied der Hurriyat. Im Gegensatz zu Ruhullah und Mehmood lassen ihn ein schwarzer Turban und der golddurchwirkte knöchellange Mantel auch so aussehen. „Wie können Wahlen ‚frei und fair‘ sein, wenn sie im Schatten des Gewehrlaufs stattfinden?“, fragt Hassan in seinem Garten in Badgam, der durch eine hohe Mauer getrennt an die Anwesen seines Neffen und seines Cousins grenzt. „500.000 indische Sicherheitskräfte sind in Kaschmir aufgeboten. Es gibt zahlreiche Untergrundgruppen. Können in einer solchen Situation freie Wahlen durchgeführt werden?“
Jenseits der Mauer erwidert der 26-jährige Ruhullah später: „Die unabhängige Wahlkommission hat für die erste Teilwahl eine Beteiligung von nahezu 50 Prozent festgestellt. Für den zweiten Wahlgang wird es ebenso sein.“ Und die Zahl der streitenden Wähler in Chandpora stützen, wenn nicht Ruhullahs Altersanspruch, so doch seine Prognose einer starken Wahlbeteiligung.
Im Kranz der Dörfer, die sich am Fuß des Pir-Panjal-Massivs – dem Grenzgebiet zu Pakistan – aneinander reihen, liegt auch das Dorf Gondipora. Es sieht aus wie die anderen, doch die Stimmung am 24. September ist weder bitter und gefügig wie in Kalihama, noch enthusiastisch wie in Chandpora und Charangam. Das Wahllokal am Ortseingang liegt verlassen da, gerade elf Einwohner haben bis zum Mittag gewählt. Mitten im Dorf steht eine aufgebrachte Menge. Als Journalisten und Wahlbeobachter näher kommen, löst sich aus dem Gedränge ein Trupp Soldaten. Sie laufen in die Häuserreihen weg, wohl aus Angst, bei der Wahlnötigung erwischt zu werden. „Azadi, Azadi“ schreien die Männer, durch die Besucher ermutigt. Die Frauen berichten aufgeregt, die Soldaten hätten soeben zum zweiten Mal an diesem Tag versucht, sie zum Wahllokal zu drängen. „Sie drohten, uns zu vergewaltigen. Sie nahmen uns unsere Identitätskarten ab.“ Angeblich erklärten die Soldaten, die Ausweise erst zurückzugeben, wenn sie auf ihren Fingerspitzen den Tintenklecks sähen. „Wir haben kein Wasser, keinen Strom“, sagt ein Mann in der Menge, doch der wird gleich weggeschoben. „Selbst wenn wir Strom hätten, würden wir nicht wählen. Auf dem Friedhof von Beerwah liegen 120 Tschetschenen. Wenn wir jetzt wählen gingen, wäre ihr Opfer vergebens gewesen.“
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