: Nachtgestalten leuchten besser
Die Welt besteht aus lauter Ornamenten und ist ständig in Bewegung: Der Berliner Künstler Marc Brandenburg hängt seine Zeichnungen am liebsten in tiefschwarz gestrichene Räume. Sichtbar wird so auch das, was unbezeichnet bleibt. Der Chelsea Kunstraum in Köln zeigt neue Arbeiten von Brandenburg
von HARALD FRICKE
Weiß sind die Räume der Kunst. Eimerweise Deckfarbe wird nach jeder Ausstellung über die Wände gestrichen, damit sie stets neuwertig erscheinen und vor allem keine Ablenkung im Angesicht der aufgehängten oder in den Raum gelegten Kunstwerke erlauben. Denn neben der Kunst der Moderne soll alles andere nichts sein. Eine irgendwie trostlose Vorstellung.
Die Räume, in die der Berliner Künstler Marc Brandenburg seine Zeichnungen hängt, sind tiefschwarz und nicht minder empfindlich. Das liegt an der konzeptuellen Umwertung: Schwarz meint hier keine Negation im geschmackvoll gestylten Ambiente, sondern totale Dunkelheit, in der man sich unsicher vorantastet auf der Suche nach Bildern. Einzige Orientierung liefert das Schwarzlicht von zwei Neonröhren, unter denen jeder Fussel auf dem Hemd leuchtet – und eben auch die Weißflächen der Zeichenblätter. Die Ausstellung im Kölner Chelsea Kunstraum markiert damit ein visuelles Paradox: Sichtbar wird jeder Gegenstand erst durch das, was Brandenburg nicht zeichnet, was unbezeichnet bleibt. Leicht kann man sich einige Zeit mit diesem Verwirrspiel beschäftigen, kann sich bei einer Seelandschaft in Gedanken ausmalen, wie Bach und Bäume wohl aussehen würden, wären sie nicht im Negativverfahren abgebildet. Schließlich ist jedes Detail vorhanden, hier ein in Grautönen abgestufter Zweig, der sich feinädrig über die Wasseroberfläche schiebt, dort ein Wust aus Blättern, deren Spitzen sich auf dem Bächlein weiß spiegeln.
Überhaupt Spiegel: Ist die Welt, wie sie Brandenburg darstellt, noch nicht im Stadium ihrer Verfestigung angelangt? Ist sie gar ein Trugbild, so wie das Negativ der Fotografie das Entwicklerbad braucht, damit sich die Kontraste trennen, bis wir die Wirklichkeit erkennen? Tatsächlich führt der Weg vom Raffinement, mit dem Brandenburg zeichnerisch vorgeht, zu der Frage, wie man sieht, oder besser: Was man sehen will. Entsprechend sind die Motive gewählt: Demonstrationszüge mischen sich mit abstrakten Flächen und Bohemeporträts aus Berlin. Ein Mann im Bikini räkelt sich auf einer Couch, der Schauspieler Udo Kier trägt ein Fetisch-Outfit. Und immer wieder Blumen, weil sich die Welt, wie Brandenburg sie zeigt, aus lauter Ornamenten zusammensetzt. Kein Schnipsel der Wirklichkeit hat da mehr Bedeutung als ein anderer, alles fügt sich zueinander. Das ist eine überaus romantische Idee: Schon Novalis hatte sich das schönste Vergnügen als eine Gruppe von Menschen vorgestellt, in der jeder auf dem Schoß des nächsten sitzen sollte. Keiner macht den Anfang, niemand sitzt am Ende der Kette – nicht einmal einen Stuhl braucht es für diesen Ring aus Körpern.
Brandenburg treibt diesen Wunsch nach gesellschaftlicher Vervollkommnung in Bildern des Alltags voran. Seit bald sechs Jahren arbeitet er an den kleinformatigen Zeichnungen, um daraus irgendwann einen 100 Meter langen Fries zu fertigen. Er sucht unspektakuläre Szenen, die in der Verzahnung, als Serie ohne Zwischenraum Blatt an Blatt gehängt, zu einer surrealen Erzählung verwachsen. Die Dunkelheit schafft beim Betrachter nicht mehr Platz für Fantasie; sie zwingt ihn, die zufällige Abfolge der Fragmente als Kontinuum zu lesen: als sehr spezifische Handschrift hinter dem Ansturm aus Banalitäten. Alles scheint sich die Waage zu halten, vom Straßenkampf bis zur Herbstidylle. Diese Auslegung der Realität wird von Brandenburg formal noch zugespitzt, indem er für seine Zeichnungen die Normbreite von Din A 4-Papier benutzt. Selten sind sich dabei Platons Höhlengleichnis und Welttheater so sehr in die Quere gekommen. Das helle Licht der Aufklärung kann man dem white cube überlassen. Aber die Nachtgestalten leuchten besser.
Bis 26. 10., Chelsea Kunstraum, Köln
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