: Jeder Spatz hat Folgen
Schriften zu Zeitschriften: Die neue Ausgabe des Essener „Schreibhefts“ beschäftigt sich mit dem ausufernden Werk des niederländischen Schriftstellers A. F. Th. van der Heijden und stellt dessen neuen Romanzyklus „Homo duplex“ vor
A. F. Th. van der Heijden ist ein Schriftsteller alter Schule. Keiner, der das Schreiben in Creative-Writing-Kursen oder auf Schriftstellerakademien gelernt hat; keiner, der nur so im Vorbeigehen mal einen Roman schreibt. Sondern einer, der sich den Fulltime-Beruf des Schriftstellers selbst beigebracht hat, ihn geradezu besessen, wenn nicht manisch ausübt und als wichtigstes Hilfsmittel die Werke großer Vorgänger verwendet: „Die großen Romane von Proust, von Joyce, von Kafka (und anderen) lese ich nicht, ich studiere und analysiere sie, um aus ihnen zu lernen, genauso wie Rembrandts Schüler von ihrem Meister lernten. Ohne solche Lehrstunden kann ich überhaupt keine Bücher schreiben.“
Diese Mitteilung machte van der Heijden 1984 einem Mitarbeiter des Finanzamts während eines Telefonats, in dem es um das steuerliche Absetzen von Büchern ging, und transkribierte sie später in einem Brief an seinen Steuerberater. Nachzulesen ist dieser Brief in der neuen Ausgabe der zweimal jährlich erscheinenden Literaturzeitschrift Schreibheft, die sich vorwiegend mit dem Leben und dem ausufernden Werk van der Heijdens mitsamt dessen poetologischen Grundlagen beschäftigt.
Als Van-der-Heijden-Fan, zumal als deutscher, darf man sich schon nach einigem Herumblättern erstaunt die Augen reiben: Steht hierzulande noch immer der zweibändige dritte Teil seines weit verzweigten, siebenbändigen Zeit- und Bildungssromans „Die zahnlose Zeit“ aus (soll im Frühjahr 2003 veröffentlicht werden), so arbeitet van der Heijden seit 1997 an einem noch größeren Romanprojekt mit dem Titel „Homo duplex“ und ist damit auch schon ziemlich weit vorangekommen. Im Zentrum dieses mindestens siebenteiligen und unter dem Autorennamen A. F. Th. erscheinenden Romanzyklus steht die Idee, „ein Anderer zu werden, um so dem eigenen Tod zu entgehen“.
Van der Heijdens neuer Held ist Tibbolt „Movo“ Satink, ein zynischer, intelligenter junger Mann mit wechselnden Berufen wie Hooligan und Verführer älterer Damen. Satink schreibt natürlich auch, und das nicht weniger wüst und obsessiv als sein Erfinder: „Meine Karriere als Anderer“ heißt seine Autobiografie, als die „Gedichte Gottes“ kommt sein Nachlass und „unmögliches Opus magnum“ heraus, ein Buch, „das nach menschlichem Ermessen nicht hat geschrieben werden können“, und zu guter Letzt hat er noch 179 ein- bis zweistündige Tonbänder voll gesprochen, die so genannten „Movo-Tapes“, die ebenfalls als Buch veröffentlicht werden sollen.
Es ist der helle, zu Schrift gewordene, numerologische und sich bis in die Veröffentlichungspraxis ausbreitende Wahnsinn van der Heijdens, der in diesem von Norbert Wehr herausgegebenen Schreibheft seine Runden dreht; ein Wahnsinn, dessen Leitsymptom man so umschreiben kann: raus aus der Wirklichkeit, rein in die Literatur, raus aus dem Leben, rein in die Unsterblichkeit. Und: Gib der Zeit keine Chance!
Van der Heijden hat sich allerdings gut im Griff, was Arbeitsdisziplin, Alkoholkonsum und Zielstrebigkeit betrifft, er ist sozusagen medikamentös hervorragend eingestellt, und er arbeitet sich in „Homo duplex“ auch an einem der Säulenheiligen der niederländischen Literatur ab, dem 1995 gestorbenen Schriftsteller Willem Frederik Hermans. Dieser übertrug 1958 Aristoteles’ dramentheoretische Lehre von den drei Einheiten auf die Prosa. Dabei befand er die Einheiten Ort und Zeit für den Roman als veraltet, die Einheit der Handlung aber als taufrisch und klassisch. Es folgte ein Plädoyer für den Ideenroman, „in dem alles, was geschieht, und alles, was beschrieben wird, zielgerichtet ist, in dem sozusagen kein Spatz vom Dach fällt, ohne dass es Folgen hat“. Wirklichkeitsnähe versus Ästhetizismus, Spatz auf dem Dach versus toter Spatz in der Hand: Hermans’ Essay zog seinerzeit in den Niederlanden eine Debatte nach sich, die das Schreibheft mit Texten von Hermans, Maarten ’t Hart und Charlotte Mutsaers dokumentiert.
Van der Heijden wiederum zitiert in „Homo duplex“ Auszüge aus Hermans’ Novelle „Das unversehrte Haus“ und beschreibt, wie Tibbolt Satink auf Geheiß seines Niederländischlehrers das Hermans-Werk nach einem vom Dach fallenden Spatzen durcharbeiten soll. Am Ende hat er zwar einen Spatz gefunden, erlebt aber, wie sein Lehrer „den Hausspatz als Symbolträger disqualifiziert“. Immerhin greift bei van der Heijden die literarische Wirklichkeit laufend in die eigene Lebenswirklichkeit ein, wie seine Briefe an Verleger, Lektoren und Freunde beweisen: Er spricht davon, wie sein „Material“ zwischen den Büchern wandert, wie sich der eigentlich autonome Roman „Der Anwalt der Hähne“ von selbst in Richtung „Zahnlose Zeit“ einrückte. Oder wie „Homo duplex“ in einem fort neue Perspektiven schafft, die wiederum die Aufteilung der einzelnen Bände bestimmen.
Damit aber nicht genug. In einem Brief an seinen Freund Jan Brands kündigt van der Heijden vor dem Hintergrund seines fünfzigsten Geburtstags an: „Ich will entschieden älter werden als fünfzig. Um mich selbst davon zu überzeugen, habe ich mal wieder einen ganz neuen Romanzyklus begonnen. Ich (…) schreibe nur noch. Das gibt mir das Gefühl, noch ein Meer an Leben vor mir zu haben.“
GERRIT BARTELS
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 59. Rigodon-Verlag Essen, 224 Seiten, 10,50 €
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