: „Kostenexplosion ist ein Märchen“
Alles wird für krank erklärt, warnt der Bremer Forscher Bernard Braun. Er fordert eine neue Debatte darüber, was krank ist. Dadurch würden Beitragszahler finanziell entlastet und sie hätten mehr Eigenverantwortung
Bernard Braun, Forscher am Zentrum für Sozialpolitik, fordert eine Wende im Gesundheitssystem. Die Neuerung müsse von unten kommen. Politik könne höchstens moderieren. Zurzeit studiert Braun die Auswirkung der Fallpauschale an deutschen Krankenhäusern ab nächstem Jahr. Besonders im Fokus: Was ändert sich für PatientInnen.
taz: Alle reden von Kostenexplosion, Sie sprechen von „Märchen“. Wie kommen Sie dazu?
Bernard Braun: Kostenexplosion suggeriert, dass mehr Geld ausgegeben würde. Das stimmt nicht. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt für die Kosten im Gesundheitswesen sind im letzten Jahrzehnt nur geringfügig gestiegen. Wären die Verhältnisse noch wie in den 70er Jahren, dann läge der Beitrag heute bei rund elf Prozent. Aber es hat eine Umverteilung gegeben. Beispiel Arbeitslose: Normalerweise muss ja die Arbeitslosenversicherung deren Krankenkassenbeitrag zahlen. Weil die Regierung den Bundeshaushalt aber auf Kosten der Beitragszahler um Milliarden entlastet, steigen deren Beiträge. Das wird sich mit der Hartz-Reform verschärfen, denn Beitragslosigkeit für geringfügig Beschäftigte heißt: Die Kassen haben Ausgaben, kriegen aber nichts von diesen Leuten.
Oft hört man, die Versorgung von immer mehr älteren Menschen sei teuer. Stimmt das?
Das muss man mit Fragezeichen betrachten. Ob alte Leute länger und intensiver krank sind, ist weltweit ungeklärt. Schweden etwa hat prozentual mehr Alte, gibt für die aber weniger aus als Deutschland.
Treibt der medizinisch-technischen Fortschritt die Preise hoch?
Es gibt auch Neuerungen, die die Kosten senken. Denken Sie an Schlüsselloch-Operationen. Wer heute von steigenden Ausgaben spricht, schreibt in der Regel die Kostenentwicklung der letzten Jahre linear fort. Dabei wird selten auf kostendämpfende Effekte geachtet. In der Therapie gibt es in den letzten Jahren vergleichsweise wenig Innovationen, während die Kosten im diagnostischen Bereich steigen. Aber das ist oft Diagnostik, mit der man irgendwelche Werte feststellen kann, die aber nichts mehr bringt. Man muss fragen, ob wir uns das leisten können, Diagnosen zu stellen, ohne eine Therapie anbieten zu können.
Viele fordern „mehr Eigenverantwortung“ und meinen: privat bezahlen. Sie wollen „mehr Eigenverantwortung“.
Ja. Wir brauchen eine neue Debatte über die Eigenverantwortung. Wir haben alle möglichen, völlig natürlichen und sogar positiven Signale medikalisiert. Hochproblematisch: Bei der Menopause gibt es Medikamente ohne Ende, die auch noch schaden. Dasselbe beim Schmerz, der ja ein positives Warnsignal ist, das andeutet: Entlaste dich von dem, was hinter dem Schmerz steht. Was die höhere Selbstbeteiligung betrifft: Dafür gibt es keine guten Argumente. In Holland wurde das Zuzahlen jetzt deshalb wieder abgeschafft. Eine Untersuchung hat erbracht, dass kranke Holländer zu oft zu Hause blieben, dass das hohe Folgekosten verursacht hat.
Wie sie es auch angehen – die Versicherten machen alles falsch?
Nein, so jetzt nicht. Aber wir müssen darüber reden, was in dieser Gesellschaft gesund und nützlich ist, und was krank und therapierbar. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe – und nicht eine für Regierungsparteien. Wenn man sagt, Schmerz ist Krankheit und muss bezahlt werden, dann hat man eben permanente Ausgaben.
Wo muss die Bundesgesundheitsministerin umlenken?
Politik muss gestehen, dass immer mehr interveniert wird, wo es irgend jemandem in den Kram passt. Nutzlose Diagnostik und Therapie dürfen nicht weiter bezahlt werden. Außerdem brauchen wir bei den Arzneimitteln endlich eine Positivliste.
Sie halten auch Vorträge bei der Gewerkschaft. Ist das die gesellschaftliche Gruppierung, die uns voran bringt?
Die sitzen natürlich zwischen Baum und Borke. Die vertreten die Beitragszahler, organisieren gleichzeitig die Beschäftigten im Gesundheitswesen, manche repräsentieren sogar Patienten. Insofern sind Gewerkschaften relativ schwach – aber sie gehören zu den Beteiligten im Gesundheitssystem, für deren Verständigung Politik die Bedingungen herstellen muss. Politik darf nicht nur über Vorschaltgesetze und Foren versuchen, etwas zu ändern. Sie muss den Verständigungsprozess lenken, bei dem am Ende beantwortet werden wird: Was wird noch bezahlt und was nicht? Aber zurzeit liegen alle nur in ihren Gräben und bollern.
Fragen: Eva Rhode
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