Architektur in Wolfsburg: Demokratisches Bekenntnis
Wolfsburgs Theater, fertig gestellt 1973, ist das einzige, das je vom einflussreichen Architekten Hans Scharoun realisiert wurde
WOLFSBURG taz | Klieversberg heißt, etwas dramatisch übertrieben, eine bewaldete Anhöhe an der südlichen Einfahrt in die Stadt Wolfsburg. Am nördlichen Hang dieses Hügels lagert ein lang gestrecktes Gebäude, dessen Nutzung sich nicht sofort erschließen würde – wüsste man nicht, dass es das städtische Theater ist. Und nicht irgend eins: Mit rund 200 Metern Ausdehnung kann es sich Wolfsburg des wohl längsten Theater der gesamten Republik rühmen.
Aber auch sonst ist er etwas Besonderes: der einzige jemals realisierte Theaterbau des Architekten Hans Scharoun. Dabei hatte der sich sein ganzes Berufsleben lang mit experimentellen Raumentwürfen beschäftigt – gerade auch für den Theaterbau. Scharouns Idee des architektonischen Raumes ist organisch und dynamisch, und rezipiert wird er, indem man sich hindurch bewegt. Durch diese Form der Wahrnehmung, sagte Scharoun einmal, unterscheide sich die Architektur von anderen statischen Künsten: In ihrer Wirkungsweise ähnele sie der Musik.
Ein solches Raummodell bezieht unbedingt ein, wie ein Bauwerk im Organismus der Stadt positioniert ist. Scharoun konzipierte, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, sogenannte Stadtlandschaften: Ausdruck eines Neuen Bauens in einer Neuen Stadt. Den starren an Achsen ausgerichteten Systemen eines historischen Städtebaus setzte er komplexe Beziehungen entgegen. Zu seinen Mitteln der Formgebung zählen aperspektivische Blickbezüge, verschränkte Raumkanten und polygonale Baukörper.
Architekt: Hans Scharoun, geboren 1893 in Bremen, gestorben 1972 in Berlin.
Grundsteinlegung: 1969; einjähriger Baustopp ab Frühjahr 1970 - wegen unkalkulierbarer Kostenentwicklung im Bausektor; Richtfest: 3. Dezember 1971; Übergabe: 5. Oktober 1973.
Baukosten: 24,8 Millionen D-Mark.
777 Plätze (Musik), 833 (Schauspiel), bei Bedarf 120 Stehplätze.
Rund 100.000 Besucher bei etwa 200 Veranstaltungen je Spielzeit.
Sanierung (Bühnen- und Sicherheitstechnik, Raumklima, Energie): ab Juni 2014. Kosten voraussichtlich 29,75 Mio. Euro.
In Wolfsburg liegt der Theaterbau liegt leicht ab vom Zentrum. Die Sichtachse der Porschestraße – Rückgrat der 1938 gegründeten Stadt – läuft ins Leere, das Theater dreht sich, seine volle Länge aufspannend, im spitzen Winkel aus ihr heraus. Hatte die nationalsozialistische Stadtplanung den Klieversberg noch mit einer Stadtkrone aus Parteibauten beherrschen wollen, repräsentiert bei Scharoun ein feingliedriger Symbolbau mit demokratischen Bekenntnis das Gemeinwesen: eine Absage an jedes demagogische Pathos.
Der Spaziergang vom Zentrum hinaus zum Theaterbau dauert eigentlich nur wenige Minuten, durch den üppigen Straßenausbau der 1990er-Jahre erscheint die das Haus aber abgeschnitten. Nähert man sich, gewinnt das kristallin hoch aufragende Zuschauer- und Bühnengebäude im Zentrum des architektonischen Panoramas immer mehr an Gewicht. Immer wieder verschieben sich die Perspektiven ineinander verschränkter Quader und ihrer schrägen Dachkanten.
Bei Sommerwetter konturiert die Vormittagssonne die kantige Großskulptur einprägsam in einerseits helle und andererseits verschattete Teile. Vor blauem Himmel tritt dann der gesamte Bau aus der dunklen Waldkulisse im Hintergrund heraus. Bei weniger akzentuierenden Lichtverhältnissen verschmilzt er mit Vegetation und Topographie zu einem norddeutsch diffusen Landschaftsstück. Rechts reckt sich ein zweigeschossiger Gebäudeflügel mit Büros und Künstlergarderoben empor, links liegt das eingeschossige, lange Foyer.
Allein dieses misst gut 80 Meter und stützt Scharouns Idee vom „Ergehen und Erleben“ des Raumes: Der Besucher schwebt vom oberen Teil des Foyers hinab in den unteren, Richtung Theatersaal. Die Flanke dieses tieferen Foyerabschnittes ist zur Stadt hin großzügig verglast: Zu sehen ist allabendlich die Alltagskulisse mit den vier Schornsteinen des VW-Werkes.
Hier kommt ein weiteres Prinzip Scharouns zum Tragen: das von Distanz und Beziehung. Die reale Szenerie draußen wird zum Gegenpart des Spielgeschehen drinnen, nicht unähnlich dem epischen Theater Bertolt Brechts: Kulturelle Aufgabe des Theater wäre die Schaffung eines autonomen Individuums, in der Lage sich seiner Selbst in der Gemeinschaft zu vergewissern.
Der Zuschauerraum des Theaters ist mit einer separaten Wandelhalle an das Foyer angeschlossen, über Freitreppen gelangt man von hier aus auf mehreren Wegen an seinen Platz. Die weit geöffnete Bühne und die Sitzreihen sind eng verbunden, Scharouns Forderung eines intimen Theaterraums mit nicht wesentlich mehr als 800 Plätzen ist eingelöst. Wegen zahlreicher Auflagen noch in der Planungszeit bleibt der Zuschauersaal selbst in einer konzeptionellen Schwebe: symmetrisches Parkett, asymmetrischer Rang. So ist das Foyer die eigentliche geistig-architektonische Essenz.
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