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Archäologen und ihre HelferVier Meter fünfzig Vergangenheit

Was treibt Menschen dazu, sich Tag für Tag durch die Erde zu wühlen? Besuch bei einer Grabung in Hamburg-Harburg.

Buddelt in Hamburg-Harburg: Archäologiehelfer Jan sucht mit einem kleinem Detektor nach metallischen Teilen. Bild: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Container liegen in Pfützen, eine Baggerschaufel beißt knirschend in die Zwischendecke eines Abbruchhauses. Hier, in der Schlossstraße in Hamburg-Harburg, soll ein neues Wohnquartier hochbetoniert werden. Doch bevor es so weit ist, ist die Geschichte dran. Abseits des arbeitenden Baggers ragt deshalb ein steif gezogenes weißes Partyzelt in den grauen Himmel. Der Weg hinein führt über eine zu Matsch zertretene Erdfläche und mündet vor einem Art Schachbrett aus Quadraten, in den Boden eingegraben. Dazwischen liegt als Begrenzung ein solides Dammsystem – die Flaniermeile des Archäologen.

Von dort oben blickt Kay-Peter Suchowa, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Projekt Schlossstraße, auf ein orangefarbenes Backsteinfundament, das in der dunklen Erde leuchtet. Er blickt auf angemodertes Holz, das endlich wieder Luft atmen darf, und auf eine Fläche mit Kopfsteinpflaster. Die einzelnen Steine sind nahezu plastisch freigekratzt. Es scheint eher das Bühnenbild eines Kopfsteinpflasters zu sein als etwas, das seit Jahrhunderten unter einer meterdicken Schicht Erde begraben lag.

„Das war Holger“, sagt Suchowa. „Wenn ich etwas umsichtig gearbeitet haben will, macht Holger das. Der kann so schön putzen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der den Boden so glatt kriegt.“

Holger steht ein paar Meter daneben und hört nicht. Er hält die Stufe einer Leiter fest umgriffen. Ein Kollege steigt zittrig hinauf in drei Meter Höhe und balanciert dabei einen Fotoapparat in der Hand. Alles, was sie finden, wird hier markiert, kartiert, fotografiert und zeitlich eingeordnet. Auch Holgers Kopfsteine, die aussehen wie geleckt. Dann kommen sie auf den Müll. Die Grabungen gehen weiter.

„Wir haben uns nach oben gewohnt,“ sagt Suchowa. Etwa vier Meter fünfzig seit dem 13. Jahrhundert. Deshalb grabe man sich jetzt vier Meter fünfzig nach unten, eine Erdschicht nach der anderen, Kopfsteinpflaster oder nicht. Er zieht die Ringnadel aus seiner geschlossenen Faust. Normalerweise zeichnet er damit Erdschichten im Profil nach, um sie visuell miteinander zu verbinden und die Vergangenheit zu verstehen. Einfachere geistige Herausforderungen lassen sich damit aber auch verdeutlichen. Lehrstunde.

Auf das sumpfige Moorland hier, sagt Suchowa, hätten die Menschen zuerst eine Lehmschicht gegen das Wasser gesetzt. Er ritzt einen horizontalen Strich in den Sandboden vor seinen Füßen. Danach häufte man einen Sandhügel an, im Falle einer Überschwemmung. Rrrrrzzzz, ein schwungvoller Halbkreis über die Lehmlinie. Darauf ein Haus. Er schwingt die Nadel. Nicht den Tierkot vergessen, irgendwann gibt es davon zu viel, dann steht der Morast zu hoch, sagt er, dann sind die „Trippen“ nutzlos, eine Art hochhackige Schuhe gegen Modder, der Schlick schwappe einfach in die Lederschuhe hinein. „Darauf hat keiner mehr Lust.“ Rzzzzzz, eine weitere Sandschicht drauf. Dann brennt das Haus ab. Weg ist es. Dann kommt auf den Brandbruch wieder Sand. Rzzzzzzz. Suchowa putzt die Ringnadel ab.

Der Mensch, wie er sich nach oben wohnt. 700 Jahre Geschichte in 30 Sekunden. Suchowa schaut mit großen Augen auf seine Zeichnung, lächelt und legt dabei eine große Zahnlücke frei. Er mag seinen Beruf.

Man nutze alle Sinne, sagt der 43-Jährige. Er darf die Funde anfassen, er riecht den alten Dung im Boden, er sieht die Farblinien der Erdschichten im Profil. „Und es ist alles total logisch. Da kommen Gefühle und Verstand zusammen. Das finde ich so schön.“ Schön. Er dehnt das Wort, wuchtet ein H hinein. „So schö-hön.“ Es gibt seiner Begeisterung Gewichtung.

Der Beruf habe ihn zu einer höheren Achtsamkeit gegenüber allem geführt, sagt Suchowa. „Alles, was ich jetzt für die Vergangenheit mache, mache ich auch in der Gegenwart.“ Auf der Straße schaue er sich die Menschen an, welche Schuhe sie tragen und was diese wiederum über den sozialen Stand aussagen, über die Herkunft der Leute. Er selbst sei nämlich wurzellos. Seine Familie wurde im zweiten Weltkrieg aus Russland nach Deutschland verschleppt. Es mag „Fünf-Cent-Psychologie“ sein, sagt Suchowa, aber vielleicht interessiere er sich deshalb so für Geschichte. „Um mich selber irgendwie verorten zu können in Raum und Zeit.“

„Bitte zwei Meter zur Seite!“ Klick. Der Kollege steigt vom „Panoramablick“ hinunter. Das Kopfsteinpflaster ist abfotografiert, ohne Suchowa im Bild. Holger darf endlich die Leiter loslassen. Der 26-Jährige sieht müde aus, aber zufrieden. Er trägt einen Kapuzenpulli mit dem Namen einer Death-Metal-Band, zwischen dem gemütlichen Dreitagebart wachsen schwarze Piercings aus der Lippe.

Friedhofsgärtner habe er eigentlich gelernt, sagt Holger. Nach sechs Monaten in einem Zweimann-Betrieb – „Ackern bis zum Umfallen“ – kam die Kündigung. Das Arbeitsamt beförderte ihn dann zum Grabungshelfer. Befördert, weil ihm die Arbeit gefällt. „Das ist wie’n kleiner Junge, der in der Sandkiste spielen darf, und man wird dafür bezahlt.“

Es sei beruhigend, sagt er, dort unten in der Grube, wenn er den Fugenkratzer zwischen den Steinen hin und her zieht. „Die Zeit geht schön schnell rum, weil man nicht andauernd auf die Uhr guckt.“

Fummelarbeit gefällt ihm. Zu Hause schnitzt Holger Dinge aus Holz. Einmal hätte er einen Totenkopf für den Gangschaltknüppel seines Autos angefertigt. Das Material war Eibe, ein besonders hartes Holz. Er habe wirklich lange daran gearbeitet, erinnert er sich. Aber er hätte zuvor auch lange gewartet. Zwei Jahre. Das Holz musste trocknen. „Ich bin ein geduldiger Mensch“, sagt er.

Zwei Jahre muss in der Schlossstraße niemand warten, um etwas in den Händen zu halten. Während rechts von Holger ein Laufband Erde aus dem Zelt rattert, wartet ein Mann dort, wo die Erde in den freien Fall übergeht. Er stülpt gelbe Geschirrspülhandschuhe über und schwenkt dann einen Stock, an dessen Ende eine Art Tennisschlägerkopf sitzt, über den ansteigenden Haufen vor seinen Füßen. Qua-ak-ak-ak, qua-ak-ak-ak! Es klingt wie eine Ententröte auf Stoßatmung.

Den ganzen Tag immer derselbe Sound? „Ne, ne. Je edler das Metall, desto höher der Ton.“ So funktioniert der Metalldetektor, sagt Jan. Er ist gelernter Garten- und Landschaftsgärtner. Ein unsicherer Beruf. Die Stellenausschreibung für seinen „Traumjob“ Archäologiehelfer kam ihm gelegen. Da gräbt man das ganze Jahr durch.

Jan ist in der Lüneburger Altstadt aufgewachsen, sein Großvater hatte dort ein Antiquitätengeschäft. Beides, das Geschäft und die französische Militärbesatzung der Stadt im vorletzten Jahrhundert, hat ihn für die Vergangenheit sensibilisiert. Er ist ins Fachwissen hineingewachsen.

„Der erkennt einen Uniformknopf und weiß die Einheit“, schwärmt Suchowa. Quaak! Jan zückt einen Pinpointer aus der Hose. Ein Textmarker-dickes Gerät zur Feinortung. Er drückt es in den weichen Boden. Pieep, piep, da! Schwarze Erde bröckelt auf gelbe Handschuhe. „Nichts Spektakuläres, ein abgebrochener Nagel.“ Er fokussiert den Fund durch die dicken Brillengläser, geht hinüber zu einer Holzbohle und legt es zu den anderen Funden. Netzsenker, Waffenteile, Beschläge. Auch Armbrustbolzen. Eine Seite seines Mundwinkels wandert still nach oben. Er schmunzelt, nur für sich. Wie jemand, der einen Goldschatz gefunden hat und mit jemandem spricht, der nichts davon weiß. Es ist Freitag, kurz nach 12 Uhr. Feierabend macht er trotzdem.

Vier Grabungen sind auf dem Gelände in der Harburger Schlossstraße bisher erschlossen. Aus einer, die bald dichtgeschoben wird, weil man dort bereits auf vier Meter fünfzig Tiefe ist, säuselt leise eine Klavier-Komposition. Es klingt nach Abschied. Unterhalb des Radios am Grubenrand hocken zwei Mitarbeiter. Der eine grübelt über einer Karte mit bunten Linien. Der andere starrt in die dunkle Erdwand vor sich. Über einige der Boden-Kompositionen herrscht offenbar noch Ratlosigkeit. Im Hintergrund gurgelt eine Pumpe Wasser aus der Grube. „Die Elbe“, sagt jemand. Die Zeit drängt. Es muss Sand drauf. Rzzz.

Suchowa hat noch ein Jahr Zeit, dann kommen der Investor und das Wohnquartier. Er würde am liebsten noch vier Jahre weitergraben, sagt er. So wie die meisten hier. Auch ohne Zelt, im Regen, bei Wind. Sogar ohne Toilette.

Der Archäologe sieht seinen Beruf in der gesellschaftlichen Tradition von Schamanen. Die seien einst verantwortlich gewesen für das historische Bewusstsein eines Stammes. Sie hätten erzählt, wo der Stamm herkam, was die Mitglieder gemacht haben, um der Gemeinschaft eine Identität zu verleihen. Heute sei das einfach nur spezieller. „Ich erzähle eben nur über die Geschichte, üm spirituelle Sachen kümmern sich andere.“

Gerne würde Suchowa den Menschen öfters zurufen: „Hör doch mal“ und „Guck doch mal!“ Die heutige Orientierungslosigkeit, so seine Vermutung, habe viel damit zu tun, das man einfach nicht mehr über seine Herkunft Bescheid wisse. Es fehle die Identifikation. Dabei müsse man doch wissen, woher man komme, um entscheiden zu können, wohin man gehe. Das sei seine Philosophie.

Der Archäologe steht auf seinem Flanier-Damm und schaut hinunter auf die quadratischen Grabungsflächen. Seine Augen werden groß. Dort drüben, er visiert die orangefarben leuchtenden Backsteine an. Könnte es das Fundament eines Brunnens sein? Er reibt mit dem Daumen an der Ringnadel auf und ab. Da ist sie wieder, die Zahnlücke.

Nächste Woche will Suchowa unter die Backsteine schauen, aber vorher wird sie jemand freiputzen müssen. Holger. Danach wird wieder Erde über das Laufband rattern und Jan vor die Füße rieseln. Der Blick in die Vergangenheit ist etwas für geduldige Menschen.

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