: Arbeit ist das ganze Leben
Baden-Württembergs Corona-Hotspots ordnen nächtliche Ausgangsbeschränkungen an. Zuerst gab es die in Mannheim, wo die Stadt in Eigenregie noch härtere Maßnahmen ergreift. Die Eingriffe ins Privatleben fallen dabei deutlich strenger aus als die in die Arbeitswelt.
Von Minh Schredle↓
Die Lage in der Quadratestadt ist unbestreitbar sehr ernst: Mit einer 7-Tage-Inzidenz von 238,8 (Stand: 9. 12.) ist Mannheim Baden-Württembergs drittgrößter Corona-Hotspot (hinter Pforzheim mit einem Wert von 337,4 und Heilbronn mit 298,6). Vergangenen Donnerstag gab Oberarzt Thomas Kirschning vom örtlichen Universitätsklinikum im Gespräch mit dem SWR bekannt, dass die in Mannheim vorhandenen Covid-Isolierstationen „nahezu komplett ausgelastet“ seien, und man bei den Intensivbetten „bereits die Kapazitätsgrenze“ erreicht habe.
Am Freitag darauf – und nachdem es seit Mitte November nicht gelungen ist, die Inzidenz für das Stadtgebiet unter 200 zu reduzieren – verschärfte die Stadt ihre Maßnahmen und verhängte als erste Gemeinde im Südwesten nächtliche Ausgangsbeschränkungen. Zwischen 21 Uhr und 5 Uhr darf sich seitdem nur noch im Freien bewegen, wer dafür einen „triftigen Grund“ vorweisen kann. Beispielsweise wenn ein medizinischer Notfall vorliegt, der Hund ausgeführt werden muss oder die Arbeit ansteht. Shoppingtouren und Freundesbesuche fallen nicht darunter.
Zum Hintergrund erläutert Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) per Videobotschaft, „dass wir den privaten Kontakt im Infektionsgeschehen nach wie vor als dominant sehen“. Eine Aussage, die sich mit den Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) deckt. Demnach handle es sich bei dem Vorgang einer Infektion meist um ein „diffuses Geschehen mit vermehrten Häufungen in Zusammenhang mit privaten Feiern im Familien- und Freundeskreis“. In vielen Fällen ist längst nicht mehr zurückzuverfolgen, wer sich wo und wie angesteckt hat. Beim Faktenfinder der Tagesschau hieß es allerdings am 28. Oktober: „Folgt man der RKI-Darstellung, finden die meisten Ausbrüche zuhause statt, aber auch der Arbeitsplatz spielt demnach eine Rolle. Der Bereich ‚Freizeit‘, der nun mutmaßlich besonders stark eingeschränkt werden soll, liegt weit dahinter.“
Seuche im Schlachthof – oh Wunder
Außerhalb der „Querdenken“-Blase dürfte relativ unstrittig sein, dass dort, wo die Infektionsraten drohen, unkontrollierbar zu werden, Gegenmaßnahmen notwendig sind, die dem Ernst der Lage entsprechend hart sein dürfen. Dennoch fällt ins Auge, dass die Beschränkungen im Bereich der privaten Freizeitgestaltung deutlich strikter ausfallen als die in der Arbeitswelt. Denn da ist es erlaubt, den empfohlenen Mindestabstand zu ignorieren.
So heißt es in den Arbeitsschutzregeln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die als Vorbild für die Republik dienen sollen: „Soweit arbeitsbedingt die Abstandsregel nicht eingehalten werden kann und technische Maßnahmen wie Abtrennungen zwischen den Arbeitsplätzen nicht umsetzbar sind, müssen die Beschäftigten mindestens Mund-Nase-Bedeckungen zum gegenseitigen Schutz tragen.“ Also „textile Bekleidungsgegenstände“, wobei explizit Erwähnung findet, dass die Mund-Nase-Bedeckung dem Fremdschutz dient: „Sie sind weder Medizinprodukte noch persönliche Schutzausrüstung.“ Ob filtrierende Masken, etwa FFP2 oder vergleichbar, nötig sind, oder die Wirkstätten stillgelegt werden müssen, obliegt der Gefährdungsbeurteilung des Arbeitgebers. Die Arbeitsregeln appelieren an den unternehmerischen Anstand: „Hierbei kommt den Führungskräften eine besondere Rolle zu.“ Und dann ist die Verwunderung groß, wenn auf dem Schlachthof wieder die Seuche ausbricht.
Auch die Corona-Verordnung des Landes Baden-Württemberg wird hier nicht strenger als der Bund. „Die Infektionsgefährdung von Beschäftigten ist unter Berücksichtigung der Bedingungen am Arbeitsplatz zu minimieren“, steht da. Es wörtlich zu nehmen, hieße wohl: Dort, wo das Einhalten von Mindestabständen nicht gewährleistet werden kann, muss die Arbeit eingestellt werden. Davon kann aber keine Rede sein.
Dass Kommunen prinzipiell mehr für den Schutz in der Arbeitswelt tun können, als der Bund vorschreibt – auch das verdeutlicht die neue Mannheimer Allgemeinverordnung. Denn seit dem 4. Dezember (und erst seit dem 4. Dezember) sind Beschäftigte in Pflege- und Altenheimen dazu verpflichtet, beim Kontakt mit Dritten permanent eine medizinische FFP2-Maske zu tragen. Seit Montag, dem 7. Dezember, steht fest, dass die nächste Verschärfung in Mannheim folgt – die eigenständig darüber hinausgeht, was die Landesverordnung verlangt: Ab dem heutigen Mittwoch müssen Friseurbetriebe, Barbershops und Sonnenstudios geschlossen bleiben, Rabattaktionen im Einzelhandel sind verboten, ebenso wie die Durchführung von Floh- und Jahrmärkten.
Eingriffe in die Arbeitswelt wären möglich – aber teuer
Das Vorgehen zeigt, dass Stadtverwaltungen und Landespolitik notfalls auch in die Arbeitswelt eingreifen könnten – allerdings tun sie das tendenziell als ultima ratio, nachdem es vorher an die Freizeit geht. In Baden-Württemberg sind die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen inzwischen überall dort verpflichtend, wo ein Inzidenzwert von 200 überschritten ist. Außer Mannheim sind zum Redaktionsschluss noch Pforzheim, Heilbronn und Ulm betroffen, sowie die Landkreise Calw, Lörrach, Tuttlingen, Freudenstadt, Rottweil, der Enz- und der Rems-Murr-Kreis – weitere werden höchstwahrscheinlich folgen.
Obwohl also vielerorts mit einer weiteren Zunahme zu rechnen ist, sind die Eingriffe in die Arbeitswelt deutlich milder als die im Frühling, als deutlich niedrigere Inzidenzen mit deutlich härteren Maßnahmen angegangen worden sind.
Offenbar haben die Monate April und Mai etwas zu schmerzhaft demonstriert, dass sich der Staatshaushalt – stets darauf angewiesen, wirtschaftliche Verwertungskreisläufe anzuzapfen –, so viel Gesundheitsschutz, respektive zu viel Stillstand, nicht leisten kann. Zur Stabilisierung der Konjunktur ist die Republik mit einer gewaltigen Geldmenge eingesprungen: Gut 33 Prozent des BIP wurden in nur zwei Monaten für Hilfsprogramme aufgewendet, wie eine Studie von McKinsey bilanziert. Bei der vorangegangen Finanzkrise beliefen sich die stabilisierenden Ausgaben in den Jahren 2008 und 2009 hingegen nur auf 3,5 Prozent. Diese Lasten haben sich im Alltag bislang kaum bemerkbar gemacht. Aber die Rechnung wird mit Sicherheit noch fällig.
Unter dem unmittelbaren Schock des vollen Krisenausbruchs sind während der ersten Welle viele nachdenkliche Artikel erschienen, mit Überlegungen, wie erstrebenswert es eigentlich ist, die öffentliche Daseinsfürsorge von einem Verwertungskreislauf abhängig zu machen, der permanent aufrecht erhalten werden muss (und nebenbei die Klimakrise anheizt). Eine Rückkehr zur Normalität dürfe es nicht geben, hieß es zu dieser Zeit vielfach. Aber diese Phase ist vorbei.
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