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Archiv-Artikel

Appetit auf Anerkennung

Das zehnte Sonar-Festival in Barcelona wird viel für sein Überangebot kritisiert. Solange es aber weiter auf unbekannte und bewährte Acts gleichermaßen setzt, wird es auch in Zukunft das wichtigste Festival für elektronische Musik in Europa bleiben

von OLIVER ILAN SCHULZ

Schelte für Sonar am 10. Geburtstag: Selbst die Presse in Barcelona erlaubte sich Kritik an den Organisatoren des größten Festivals für anspruchsvolle elektronische Musik. Masse und Überangebot stehen in der Schusslinie. Das Lokalblatt El Periódico zitiert eine erschöpfte Besucherin: „2001 gab es bei den Tagesveranstaltungen drei Bühnen. Heute sind es sechs. Werden sie 2005 die ganze Stadt besetzen?“ Der Sinneswandel der Lokalpresse ist umso erstaunlicher, weil das Festival bisher als eine heilige Kuh gelten konnte. Dabei gibt es schon länger Klagen über den ausufernden Charakter des Festivals. Die einen bedauern, dass das Nachtprogramm „Sonar by night“ seit einigen Jahren nicht mehr am Strand, sondern in drei riesigen Hallen außerhalb des Zentrums stattfindet. Die anderen vermissen die Intimität, die früher zwischen Publikum und Künstlern herrschte. Nun finden die Klagen über lange Warteschlangen und überfüllte Veranstaltungsorte in der Öffentlichkeit Widerhall.

Tatsächlich füllte beim aktuellen Festival allein die 10-Jahres-Feier für die akkreditierten Künstler, Teilnehmer der Fachmesse und Medienleute einen großen Club. Voraussichtlich 90.000 Besuchern werden sich in diesem Jahr weit über 100 Live- und DJ-Sets ansehen. Zur ersten Ausgabe des Festivals 1994 kamen knapp 6.000 Leute. Wie ist die immense Entwicklung von Sonar zu erklären? „Ich denke, der Erfolg kommt von der großen Zahl an Künstlern, die auf dem Festival gespielt haben, und daher, dass es nun als das wichtigste Festival für elektronische Musik in Europa gilt“, erklärt Sonar-Mitbegründer Ricard Robles.

Das Musikprogramm des Festivals bietet von Anfang an eine ausgewogene Mischung aus eher experimentellen und tanzbaren, aus unbekannten und bewährten Acts, die für Spezialisten und Partyschwärmer gleichermaßen attraktiv sind. Wie auf der retrospektiven Ausstellung „10 years of Sonar“ zu sehen ist, verfeinert Sonar parallel dazu seit 1997 sein Grafikdesign. Neben dem Logo und der vollendeten Gestaltung des zu jedem Festival erscheinenden Katalogs erregen vor allem die originellen und oft provokativen Fotokampagnen Aufmerksamkeit. Gute Musik, gute Außendarstellung – das Festival ist schon seit Jahren ein Markenartikel. Obwohl es Gewinne abwirft und den meisten der dort auftretenden Künstler dennoch nur Teile ihrer Unkosten zahlt, bietet Sonar den Musikschaffenden Öffentlichkeit.

Jeder will dabei sein, ein sich selbst verstärkender Prozess: „Sonar ist ein Treffpunkt für alle, die elektronische Musik lieben, sie machen, die darüber schreiben, sie feiern wollen,“ sagt Promoterin Benita vom Berliner Label BPitchcontrol. „Es bedeutet für uns, Neues zu hören, unseren Sound zu präsentieren, Künstler zu treffen, mit unseren Vertrieben zu sprechen, und das alles in einer der schönsten Städte Europas!“ Ohne Zweifel ein weiterer ganz entscheidender Grund für den Aufstieg von Sonar – weder Fans noch Leute der Musikbranche lassen sich zu einem Ausflug ins frühsommerliche Barcelona zweimal bitten. Hier geht es weniger um zwanghaften Musikgenuss oder Geschäfte als um die angenehme Atmosphäre, die zu Kontakten einlädt.

Wenn sich ein Festival etabliert, wächst mit den Jahren das Gepäck an Künstlern, die dem Festival dabei helfen oder sich selbst teilweise über das Festival etabliert haben. Seit Jahren spielen Jeff Mills und Carl Cox bei Sonar. Vielleicht soll Dauerbrenner Matthew Herbert dem Festival nun einen seriösen Anstrich geben, jedenfalls mieten die Veranstalter für dessen Big-Band-Projekt den klassischen Konzertsaal Auditori. Herbert, der eigentlich als House- und Techno-Musiker begann, bearbeitet in seinen Big- Band-Kompositionen den Klang der Musiker mit elektronischen Eingriffen. Im Konzert glückt das Experiment nur selten. Trotz Herberts respektvoller Zurückhaltung vor dem brillant spielenden Ensemble neigen seine Manipulationen zumeist dazu, das Gesamtbild zu verwischen.

Doch Herbert hat sich mit beeindruckenden Vokalisten-Persönlichkeiten umgeben: Der exzentrische Arto Lindsay, der dandyhafte Jamie Lidell und Herberts charmante Partnerin Dani Siciliano harmonieren mit der Big Band und retten den Abend. Den 20 Musikern und Zeremonienmeister Herbert werden Ovationen im Stehen zuteil.

Noch etwas weniger bekannt, von zahlreichen Fans in Barcelona aber umso fieberhafter erwartet wurde der Auftritt des Amerikaners Scott Herren. Als Prefuse 73 gehört er zu einer neuen Welle „intelligenter“ HipHop- Produzenten, die das Genre mit Einflüssen anderer Stilrichtungen bereichern und tranzendieren. Prefuse 73 verwendet Klangfarben aus Electronica und Techno, sampelt Melodien aus Jazz- und Soulstücken. Dynamische und HipHop-Beats – Scott Herren hat die Triole für den HipHop endeckt! – verweben die kurzen Stücke zu einer abwechslungsreichen, aber homogenen Klangkollage. Es bleibt der Eindruck, man hätte auf einem Radio bei der Suche nach einem Sender verschiedene, immer bessere Stationen gefunden.

Sonars kindlicher Appetit nach immer mehr Besuchern scheint zunächst gestillt, es kommt der Wunsch nach Anerkennung durchs Establishment auf. Wenn Sonar erwachsen wird, dann auf hohem Niveau. Und solange zugleich der jugendliche Wissensdurst der Veranstalter erhalten bleibt und die Sonne über Barcelona scheint, werden wir weiter zu Sonar pilgern.