■ Antje Vollmers Rede in der Prager Karls-Universität am 5. 10. 1995, stark gekürzte Fassung: Das Ende der Zweideutigkeiten
Wenn ich hier als Deutsche rede, kann ich nicht vergessen, wie Europa ausgesehen hätte, wenn Hitler und die Mehrheit der Deutschen, die ihm folgten, wirklich gesiegt hätte: ein monokultureller Alptraum, germanisch dominiert mit Zwingburgen und Konzentrationslagern bis an die Ränder des Kontinents. Für solche hybride Allmachtsphantasien, für solche Verbrechen zahlen alle Völker – teils mit tiefsitzenden Existenzängsten und teils mit lähmenden Schuldgefühlen – und kommen lange nicht zur Ruhe.
Wenn wir also reden, müssen wir bescheidener anfangen, realistischer, nüchterner. Zwischen den Tschechen und den Deutschen sind bis auf weiteres keine großen Träume angesagt. Erst einmal müssen die Trümmer aus den alten Kriegen und Kämpfen weggeräumt werden.
Zum Ausgangspunkt der Probleme zwischen den Tschechen und den Deutschen gehörte immer, daß es sich um das Verhältnis zwischen einem großen und einem kleinen Land handelt. Für die Tschechen waren und sind die Deutschen der wichtigste, aber auch der bedrohlichste Partner. Das garantiert eine permanente Aufmerksamkeit und Grundorientierung auf diesen Nachbarstaat hin. Für die Deutschen waren die Tschechen immer ein Nachbar unter vielen, gelegentlich besonders geschätzt, oft aber außerhalb der nationalen Aufmerksamkeiten. Schon in dieser unterschiedlichen gegenseitigen Wahrnehmung liegen viele Ursachen von Verständigungsschwierigkeiten begraben.
Ich glaube, daß wir diese Form der Ungleichheit und des ungleichen Interesses aufheben müssen. Ich wünsche mir, daß die deutsche Politik sich nicht länger an einem Europabild orientiert, das im Gleichgewicht der Großmächte seine tragenden tektonischen Elemente hat. Angesagt ist der Durchgang zu einem Europa der Bürgergesellschaften, zu einem Europa vieler, unterschiedlicher Demokratien. Nicht ob ein Land groß oder klein ist, wird hier entscheidend sein, sondern wie demokratisch es ist und wie zukunftsfähig.
Nach den langen Jahren der Unterdrückung und der Doppelerfahrung mit den totalitären Systemen bekundet die neue tschechische Republik einmütig den Wunsch, endlich wieder in Europa zu landen und als gleichberechtigter Partner akzeptiert zu werden. Das ist für mich der überzeugendste Beleg dafür, wie ernsthaft dieser Aufbruch aus der Vergangenheit gemeint ist. Es gibt keinen einzigen akzeptablen Grund mehr, daß die westliche Staatengemeinschaft gerade der neuen tschechischen Republik den Weg in die Europäische Union und in die Nato versperrt. Schon gar nicht gibt es für die deutsche Regierung einen Grund, diesem Wunsch im Wege zu stehen.
Der Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakische Republik nach dem Münchener Abkommen 1938 und die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren im Jahre 1939 waren vielleicht weniger blutig als der deutsche Einmarsch in Polen. Weniger demütigend waren diese Erignisse für die Tschechen sicher nicht. Diese Wehrlosigkeit hat ein Gefühl hinterlassen, der Tyrannei – trotz der Tapferkeit der Widerstandskämpfer – nicht wirksam genug entgegengetreten zu sein – jenes bohrende und beschämende Gefühl, das wir Deutschen mit weit mehr Gründen so genau kennen.
Die Idee der Vertreibung, der ethnischen Säuberung, ist Teil der totalitären Verbrechen dieses Jahrhunderts. Schlimmer noch: Sie gehört zu dem unheimlichen Gedankengut, das die Unterdrückten durchaus mit ihren Unterdrückern teilen können. Alle Vertreibungen wurzeln in der Wahnidee, ein Volk, eine Religion oder eine gesellschaftliche Schicht sei am glücklichsten allein mit sich selbst auf weitem Raum. Von dieser Wahnidee mästen sich alle totalitären Ideologien.
Als die Tschechen und Slowaken im Jahre 1945 und 1946 ihre deutschen Mitbürger aus dem Land vertrieben, taten sie dies sicher nicht, weil die Potsdamer Konferenz es erlaubt oder weil ein Edikt des Präsidenten Benes dazu aufgefordert hatte. Sie taten es vermutlich vor allem aus Gründen der Angst und der Schwäche. Sie fühlten sich nicht stark und selbstbewußt genug, um noch einmal mit diesen Deutschen in einem Staat zusammenleben zu können.
Genau darum aber wird es in den zukünftigen europäischen Bürgergesellschaften wieder gehen: In Europa werden wir wieder ohne Angst zusammenleben müssen. Und ich bin sicher: Wir werden das auch können, wenn wir von dem nationalistischen Ungeist Abschied nehmen, der Okkupationen und Vertreibungen für Rechtens erklärt hat. Davon mit Worten der Trauer und des Bedauerns Abschied zu nehmen würde helfen, alte Wunden zu schließen.
Daß die Frage der Vertreibung der Sudetendeutschen so unerträglich lange das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Tschechen belasten konnte, hat allerdings auch eine innerdeutsche Ursache. Die Millionen Vertriebenen erhielten zwar eine bedeutende materielle Integrationshilfe, aber ihr persönliches Schicksal traf weitgehend auf mitleidloses Desinteresse. So blieb ein Teil der Vertriebenen den Tschechen gegenüber unversöhnt, weil sie in Deutschland, bei uns, nicht ganz ankamen.
Tatsächlich haben in diesem einen Moment, wo es um das Verhältnis zu unseren östlichen und mitteleuropäischen Nachbarn geht, die Vertriebenen die Chance, große europäische Politik mitzugestalten. Dafür den Weg zu ebnen erfordert Ehrlichkeit und Redlichkeit beim Umgang mit ihren Verbänden. Die Zeit verrinnt. Wir, die Nachkriegsgeneration, müssen jetzt klären, was die Kriegsgeneration wohl nicht mehr klären konnte und was die nächste Generation schon nicht mehr klären will. Zweideutigkeiten sind nicht mehr erlaubt. Die alte Heimat werden auch die Sudetendeutschen nicht mehr finden, so wie niemand mehr in das Land seiner Kindheit zurückkehren kann. Wenn sie aber zugestehen könnten, daß trotz der Schwierigkeiten, eine neue Heimat zu suchen, ihr Schicksal alles in allem doch leichter war, als das Leben der Tschechen unter der zweiten Diktatur, dann könnten sie eine entscheidende Brücke sein für den Frieden zwischen beiden Völkern. Sie könnten die Zukunft freigeben, und sie könnten aufgrund ihrer geschichtlichen Verwurzelung in Böhmen und Mähren eine Mittlerfunktion für die Neugestaltung dieses mitteleuropäischen Raumes einnehmen. Eine Entscheidungssituation: Zurück in ein Land, das es nicht mehr gibt, und zu Ansprüchen, die niemand erfüllen wird, oder vorwärts in ein neu zu gestaltendes Mitteleuropa. Antje Vollmer
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