Antisemitismus in Deutschland: Juden ohne Angst

Ein Rabbiner wird niedergeschlagen, jüdische Schüler werden angepöbelt. Sind das Einzelfälle oder eine Welle der Gewalt gegen Juden?

Aus Protest gegen die Angriffe auf Menschen jüdischen Glaubens tragen Teilnehmer eines Flashmobs in Berlin die Kippa. Bild: dapd

Er war mit seiner Tochter unterwegs, seine Kippa hatte er unter einem Basecap versteckt. Aber irgendwie müssen die vier Jugendlichen die Gebetskappe doch gesehen haben. „Bist du Jude“, fragte einer von ihnen. Dann prügelten sie auf Rabbi Daniel Alter (53) ein, seiner sechsjährigen Tochter drohten sie mit dem Tod. Mit einem gebrochenen Jochbein musste Alter ins Krankenhaus.

Zweimal innerhalb einer Woche ist es in Berlin zu antisemitischen Angriffen gekommen: Nach der Attacke auf den Rabbiner wurde am Montag eine Gruppe jüdischer Schülerinnen von Jugendlichen mit antisemitischen Sprüchen beleidigt. In beiden Fällen handelt es sich um südländisch aussehende, mutmaßlich arabischstämmige junge Menschen. In beiden Fällen sind die Täter flüchtig.

Zwar lässt diese Beschreibung keinen Rückschluss auf die Religionszugehörigkeit der Täter zu. Dennoch ist nun eine Debatte über muslimischen Antisemitismus entbrannt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert von muslimischen Verbänden ein stärkeres Engagement gegen Antisemitismus.

Vor 1933 lebten in Deutschland circa 570.000 Juden.

1950 gab es nur noch rund 15.000 Juden in BRD und DDR. Bis 1989 stieg die Zahl - unter anderem durch Migranten und Flüchtlinge aus dem Ostblock - auf rund 30.000 an.

Durch Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion kamen seit 1990 ungefähr 220.000 Menschen mit jüdischem Hintergrund ins wiedervereinigte Deutschland.

Heute haben die Gemeinden des Zentralrats der Juden in Deutschland 105.000 Mitglieder.

Im Zentralrat sind 23 Landesverbände mit insgesamt 108 Gemeinden organisiert.

Daneben bestehen etwa 40 jüdische Kulturvereine und Gemeinden. Ein Teil davon hat sich zur Union progressiver Juden in Deutschland zusammengeschlossen. (rr)

Jüdische Schülergruppe beschimpft und bespuckt

Die Urgroßeltern von Yehuda Teichtal sind in Ausschwitz umgekommen. Dennoch hat sich ihr Urenkel 1996 entschieden, die USA zu verlassen, um in Deutschland als Rabbiner zu arbeiten. Warum? „Wir wollen Berlin wieder zu einem zentralen Ort jüdischen Lebens in Europa machen“, erklärt Teichtal. Vor allem sein Großvater habe ihm zu dem Neuanfang geraten: „Es ist die stärkste Rache an Hitler, wenn wir wieder an den Ort kommen, wo dieser versucht hat, die Juden umzubringen.“

Als am Montag die jüdische Schülergruppe beschimpft und bespuckt wurde, war auch Teichtals Tochter dabei. „Wir Eltern haben ihr erklärt, dass sie keine Angst haben muss. Denn die Mehrheit der Gesellschaft verhält sich normal“, sagt Teichtal. Ob er sich auf den Straßen nun genauer umschaue, wer hinter ihm gehe? „Nein“, antwortet der Rabbi. „Wir dürfen uns nicht verstecken. Auf keinen Fall“, wiederholt er immer wieder.

Auch seinen Kindern würde er niemals davon abraten, jüdische Symbole öffentlich zu tragen. „Wir sind, wer wir sind, Glauben muss in einer Demokratie sichtbar gelebt werden können.“

Müssen Juden sich wieder fürchten?

Aber zwei antisemitisch motivierte Attacken innerhalb einer Woche und so etwas in dem Land, in welchem noch vor sechs Jahrzehnten jüdisches Leben ausgerottet werden sollte. Müssen Juden sich wieder auf Deutschlands Straßen fürchten? „Nein“, sagt auch der Berliner Rabbiner Reuven Yaacobov. „Wir müssen nur Angst vor Gott haben. Nicht vor den Menschen.“

Trotzdem warnt die Amadeu Antonio Stiftung vor zunehmender Gewalt gegen Juden. „Es gibt in letzter Zeit mehr körperliche Attacken als in den vergangenen Jahren – vor allem in Großstädten, so die Vorsitzende Anetta Kahane. „Leider sind die Täter meist junge Migranten.“

Dabei ist kein statistischer Anstieg antisemitischer Straftaten zu verzeichnen. Insgesamt ist die Zahl der Angriffe gegen Juden 2011 gegenüber dem Vorjahr sogar um 2,3 Prozent gesunken. Im ersten Halbjahr 2012 registrierten die Ermittlungsbehörden bundesweit 13 Fälle von antisemitischer Gewalt. Von diesen konnten 11 rechtsextremen Straftätern zugeordnet werden.

Ob Angriffe von Muslimen auf Juden zugenommen haben? Diese Frage lässt sich statistisch jedenfalls nicht beantworten, weil es keine gesonderten Zahlen dazu gibt. Michael Kiefer, Islamwissenschaftler und Autor des Buches „Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften“, kann jedenfalls keinen Anstieg muslimischen Antisemitismus in der hiesigen Gesellschaft feststellen.

Judenhass wird mehr, wenn sich der Nahostkonflikt zuspitzt

Judenhass werde dann vermehrt öffentlich, wenn sich der Nahostkonflikt wieder zuspitzt. Doch da sei es ja gerade eher ruhig, so Kiefer. Anders sieht dies Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er glaubt nicht an eine zufällige Häufung der Angriffe. „Mir erscheint es, als würden bestimmte Personen in der islamistisch geprägten muslimischen Jugend gezielt eine Strategie der Einschüchterung anwenden“, so Joffe in der Berliner Morgenpost.

„Das mag sein, ich kann das ohne konkrete Angaben nicht beurteilen“, entgegnet Ali Kizilkaya. Der Vorsitzende des Koordinierungsrats der Muslime schiebt hinterher: „Gewalt und Gewaltverherrlichung ist schändlich. Leider gibt es auch Muslime, die sich nicht daran halten. Deshalb müssen wir uns gemeinsam noch stärker gegen alle Formen von Menschenfeindlichkeit, also Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit engagieren.“

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