Anstehendes Jubiläum : Kneipentingeln als Beruf
Nach 25 Jahren als Handverkäufer in den Straßen Berlins, hört taz-Genosse Olaf Forner auf.
Von MATTHIAS DELL
Die taz ist Teil des Problems, das Olaf Forner hat. Forner ist Handverkäufer in Berlin, seit 25 Jahren zieht er abends durch die Kneipen von Mitte und Prenzlauer Berg, um frisch gedruckte Zeitungen zu verkaufen. In den 1990er Jahren war das eine Arbeit für 200, heute für weniger als ein Zehntel, Tendenz sinkend. Der Nachthandel stirbt.
„Es steht fest, dass ich aufhöre, nur der genaue Tag noch nicht“, erklärt Forner einem Kellner im letzten der 20 Lokale auf der Tour an diesem Samstagabend. Da ist es halb elf, drei Stunden nach dem Start in einem Kellerraum vom Tagesspiegel am Anhalter Bahnhof.
Für Forner ist die Arbeit Erfüllung
Dort holt Forner seine Ware ab, unter anderem den Tagesspiegel, den Spiegel, den Freitag und Das Magazin hat er auch noch in der Tasche. Der Stapel mit der taz am Wochenende ist eigens für ihn hergeschickt worden. Und das genau ist das Problem: Seit diese Wochenendausgabe in Schleswig-Holstein gedruckt wird, kommt sie erst samstags in Berlin an. Der Vorteil für den Nachthandel ist futsch.
Olaf Forner, der sein Geld als Behindertenassistent und bei Union Berlin verdient, lädt am 9. November ins Frau Mittenmang (Rodenbergstr. 37, 3G, Nichtraucher) zu einem bunten Abend mit „Filmen, Texten und Presseprodukten“. Beginn ist um 20.30 Uhr.
Für Forner, 56, ist diese Arbeit Erfüllung. Oder besser: wird Bestimmung gewesen sein. Der gelernte Elektriker kam nach zwei unglücklichen Jahren als Paketbote zum Zeitungsverkauf, der damals seinen Lebensunterhalt finanzierte. Heute ist es ein Hobby, neben der Tätigkeit als Behindertenassistent und kleineren Jobs für den 1. FC Union Berlin.
Vor 25 Jahren wurde der Nachthandel vor allem vom Boulevard getragen, der „taz-Unioner“, wie Forner sich selbst nennt, begann mit Kurier, B. Z. und Berliner Zeitung, anfangs in Hohenschönhausen und Weißensee. Handverkäufer waren festangestellt, beim Tagesspiegel gab es feste Routen, damit sich niemand in die Quere kam.
Zweimal kandidierte er für den Aufsichtsrat der taz
Seit 2004 führt Forner die taz im Angebot, zu der er als Genosse ein besonderes Verhältnis hat. Zweimal kandidierte er für den Aufsichtsrat der taz.
Es hat sich viel gewandelt seit 1996, und deshalb ist die Runde mit Forner, einer Figur, die im amerikanischen Kino streetwise hieße, auch eine Reise durch die Zeit, eine Ethnologie des technischen Fortschritts, eine Kulturgeschichte von Berlin.
„Christian Lindner würde sagen, der Markt regelt das. Der regelt gerade ja auch, dass ich nicht mehr arbeiten werde in diesem Job“, sagt Forner, als wir auf die leere Straße vor dem Friedrichstadtpalast einbiegen. Dass in Coronazeiten weniger los ist, die Läden früher zumachen, ist auch ein Problem.
Die richtige Mischung aus Lautheit und Dezenz
Der erste Anlaufpunkt ist ein italienisches Restaurant in der Hannoverschen Straße, der Ablauf symptomatisch für den ganzen Abend. Forner tritt in den Gastraum und ruft: „Ist hier irgendjemand, der jemanden kennt, der lesen kann?“ Die Leute schauen amüsiert auf, am Ende kaufen manche ihm eine Zeitung ab.
Wieder draußen eine Erinnerung an den Ort. „Hier hab ich’s geschafft, den ersten Eulenspiegel mit Frank-Walter Steinmeier auf dem Titel an Frank-Walter Steinmeier zu verkaufen. Da stand drauf: ‚Lebt Frank-Walter Steinmeier noch?‘ Da hab ich ihm einen verkauft, und einen hat er mir signiert: ‚Ja.‘“
Forner lacht. Und sagt, dass diese „Freiheitszone für Politiker und Prominente“ typisch für Berlin sei. Wenn man nicht gerade ins Borchardt gehe, um in den Medien vorzukommen, werde man in Ruhe gelassen. Zu Forners Fähigkeiten gehört die richtige Mischung aus Lautheit und Dezenz („ein Vabanquespiel“).
Das größte Problem: die Digitalisierung
Durch manche Läden geht er schnell und stumm, weil er aus den Gesprächen heraushört, dass hier nicht das Publikum für deutschsprachige Zeitungen sitzt. Die Internationalisierung der Stadt ist auch so ein Problem für sein Geschäftsmodell. Ein anderes der Rückgang der Eckkneipen, in denen er früher den Kurier loswurde.
Das größte aber: die Digitalisierung. Eine Leserin sagt, sie habe diese Zeitung schon. Forner: Kann nicht sein, die ist von morgen. Doch, sagt die Frau, auf dem Tablet. Früher waren Taxifahrer, die auf Kundschaft warteten, dankbare Abnehmer. Heute lesen die auf ihren Smartphones.
In der Rekordnacht nach dem 11. September 2001, als laufend Exemplare nachgeliefert werden mussten zu Orten auf der Tour, hat Forner 390 Zeitungen verkauft. Am Ende unserer Runde sind es acht. Und zwölf tazzen an Wirte und Stammkunden. Für die ist der Handverkäufer eine Art privater Zusteller, der nicht nur Zeitungen vorbeibringt, sondern auch Informationen. Er stiftet Verbindung, sorgt für Austausch. Und Zirkulation.
In den „Minima Moralia“ schreibt Adorno unter der Überschrift „Fisch im Wasser“: „Ungezählte machen aus einem Zustand, welcher aus der Liquidation des Berufs folgt, ihren Beruf.“ Lässt man den Verblendungszusammenhang, also Christian Lindner, einmal weg, ist es das, was 25 Jahre Nachthandel aus Olaf Forner gemacht haben: einen bunten Fisch zwischen den gesellschaftlichen Flussarmen der Großstadt. Und dem kann jederzeit ein freudiges „Eisern, Olaf“ vom Bordstein her entgegenschallen.
Von Matthias Dell, taz-Autor