Anrufe in Zeiten der Überproduktion: Das Zeug muss raus
wirtschaftsweisen
Helmut Höge
Man weiß, mit der fortschreitenden industriellen Herstellung von Waren entstand ein immer größerer Absatzdruck. Die Produktionsstrecken ließen sich nicht einfach abstellen, so wurde dasselbe Produkt einmal teuer mit gediegenem Namen und einmal als „Billigmarke“ vertrieben. Oder man riet dem Konsumenten „Kauf 2 Nimm 3!“. Dessen ungeachtet mussten sich Vertrieb und Werbung immer mehr einfallen lassen, um das Zeug unter die Leute zu bringen. Ständiges Gejammer: „Ich werd den Scheiß nicht los!“ Egal, ob es sich um mit Witzen bedrucktes Toilettenpapier, halbe Hähnchen oder Stichsägen handelte.
Das Problem „Überproduktion“ begann schon vor 100 Jahren – in Berlin kam es darob zwischen den Osram-Gründern Rathenau und Siemens zum Zerwürfnis: Ersterer wollte auf gut Amerikanisch das Bedürfnis nach elektrischer Beleuchtung sozusagen von unten mit Reklame wecken – indem er etwa das Café Bauer Unter den Linden mit Glühbirnen illuminierte. Siemens setzte dagegen auf eine andere (preußische) Verkaufsstrategie von oben: Man muss die Regierungen dazu bringen, die elektrische Beleuchtung in jeden Haushalt zu legen, notfalls mit Schmiergeldern. Rathenaus AEG ging pleite, der Siemens-Konzern entwickelte sich zu einer Bank mit angeschlossener Produktion, wie man so sagt.
Inzwischen verfahren die meisten Firmen zweigleisig. Hinzu kommen immer mehr „Tricks“. Erst recht zum Jahresende: Da legen alle Verkäufer noch mal richtig los.
Kürzlich rief mich eine Leuchtenfirma an, und eine wohlklingende Frauenstimme pries ihr neues Deckenleuchtensystem an. Ich hatte als Aushilfshausmeister bereits mehrere Anrufe von Firmen bekommen, die wegen des geplanten Neubaus der taz Büroeinrichtungen, Umzugshilfen oder Gebäudereinigungsdienste anboten. Man konnte immer sagen: Es sei noch zu früh, Derartiges zu entscheiden, das Haus werde erst in zwei Jahren bezugsfertig.
Die junge Frau aus der Leuchtenfirma (früher sagte man: das Mädchen aus der Zündholzfabrik) ließ sich jedoch nicht abwimmeln. „Ja, darf ich Ihnen dann schon mal eine unserer neuen LED-Büroleuchten zuschicken, damit Sie einen Eindruck bekommen?“ Ja, sagte ich, das können Sie gern tun. „Dann bräuchte ich Ihre Anschrift, das heißt, die Ihrer Firma.“ Die gab ich ihr, woraufhin sie sagte: „Ich schicke Ihnen am besten auch noch einen Akku mit, dann können Sie die Leuchte gleich ausprobieren.“ Ja, das wäre prima, erwiderte ich.
Am nächsten Tag bekam ich erneut einen Anruf von der Leuchtenfirma. Diesmal von jemandem aus dem Lager: „Ja, hier Sowieso, ich wollte noch mal bitten, dass Sie mir Ihre Anschrift bestätigen – für die Rechnung. Wir machen gerade Ihre Lieferung fertig.“
Listige Akquise
Wie! Rechnung? Es war nie die Rede davon, dass wir eine Leuchte kaufen wollten, wir hatten nur nichts dagegen, sie uns mal anzukucken und sie vielleicht auszuprobieren. „Oh, dann muss das ein Versehen sein. Es tut mir leid. Dann storniere ich das Ganze und gebe den Auftrag zurück.“ Ja, seien Sie so freundlich, sagte ich und meinte, rausgehört zu haben, dass eine solch listige Akquise bei der Mitarbeiterin wahrscheinlich öfter vorkommt, sodass der Mann aus dem Lager die Lieferung immer noch mal nachprüft und gegebenenfalls wieder zurückzieht, bevor der Auftrag rausgeht.
Als Nächstes bekam ich einen Anruf von einem Presseinstitut. Man wollte sich für ein Interview im Herbst bedanken – mit einem dreitägigen Hotelaufenthalt für zwei Personen, einem „Taschengeld“ in Höhe von 100 Euro und einer Zeitung meiner Wahl. Ich entschied mich für Die Zeit. Und wunderte mich dann, dass mich danach noch zweimal junge nervöse Leute aus jenem Presseinstitut anriefen, die eigentlich nur von mir wissen wollten, ob meine Kontonummer auch stimmte. Im Endeffekt hatte ich nichts weiter als ein Zeit-Abo für 109 Euro am Hals. Mit der ersten Lieferung lag ein handgeschriebener Neujahrsgruß vom Zusteller – einem Herrn namens Atiya Al S. – in meinem Briefkasten. Ich brauchte sechs Anrufe und vier Mails, um Herrn Al S. wieder aus meinem Leben zu desintegrieren.
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