Angst vor Atom-Strahlung: Unsichtbare Zusammenhänge
Forscher und Anwohner verlangen, dass das gehäufte Auftreten von Krebs nahe dem AKW Brokdorf unabhängig untersucht wird. Die niedrige Zahl von Erkrankten rechtfertige keine Untätigkeit der Behörden.
HAMBURG taz | Die Häufung von Krebsfällen in der Gemeinde Wewelsfleth an der Unterelbe soll durch eine unabhängige Kommission erforscht werden. Diese Forderung hat die Bremer Messstelle für Arbeits- und Umweltschutz (Maus) jetzt mit einem Gutachten untermauert.
Der Verweis darauf, dass das nahe gelegene Atomkraftwerk Brokdorf nur wenig strahle und die Zahl der Betroffenen nicht ausreiche, um wissenschaftliche Schlussfolgerungen zu ziehen, rechtfertige nicht die Untätigkeit der Behörden.
Bei einem existierenden Verdacht, habe sich das öffentliche Gesundheitswesen vor allem um den Gesundheitsschutz zu kümmern, finden die Autoren Michael Henken und Fritz Storim. „Allein dadurch ist schon die Dringlichkeit des Abschaltens des Atomkraftwerks Brokdorf gegeben.“
Krebshäufungen sind über die ganze Republik verteilt: Allein in Schleswig-Holstein ermittelte das Krebsregister zehn Gemeinden mit mehr als 1.000 Einwohnern, bei denen die Krebsrate um mindestens 20 Prozent über dem Durchschnitt liegt.
Zufällige Schwankungen bestimmen das Bild, sagt Ron Pritzkuleit vom Krebsregister Schleswig-Holstein: "Wenn man Deutschland in lauter Wewelsfleths einteilte, würde man 80 Gemeinden finden, die die gleiche oder eine höhere Fallzahl haben - allein durch die statistische Verteilung."
Auch im Kinderkrebsregister finden sich innerhalb eines Zehn-Jahres-Fensters immer wieder Häufungen in Gemeinden. Betrachtet man ein anderes zeitliches Fenster, verschwinden diese erhöhten Fallzahlen meistens wieder.
Viele Menschen im dem 1.500-Einwohner-Dorf im Kreis Steinburg sind beunruhigt wegen der vielen Krebsfälle unter ihren Angehörigen und Nachbarn. In den Jahren 1998 bis 2007 sind die Menschen in Wewelsfleth um fast 50 Prozent häufiger an Krebs erkrankt als im schleswig-holsteinischen Durchschnitt.
Wie eine Auswertung des Krebsregisters ergeben hat, sind in dieser Zeit 128 Menschen in Wewelsfleth an Krebs erkrankt. Bezogen auf den statistischen Durchschnitt hätten es nur 88 sein dürfen.
Im Januar 2012 hat die Initiative „Brokdorf akut“ daher dem Kieler Gesundheitsministerium 1.900 Unterschriften übergeben: Die Ursache für die erhöhte Krebsrate müsse endlich aufgeklärt worden. Das Ministerium kam dieser Forderung entgegen und auch wieder nicht: Eine weitere Studie werde unterstützt, „wenn dafür ein wissenschaftlicher Ansatz gefunden wird“, erklärte ein Sprecher. Eben dies sei bisher nicht der Fall.
„Krebsursachen in einer Studie zu finden, ist in einer kleinen Bevölkerungsgruppe nahezu unmöglich“, heißt es in einer Stellungnahme des Ministeriums. Um eine Aussage für Wewelsfleth treffen zu können, müssten aus wissenschaftlicher Sicht weitaus höhere Patientenzahlen vorliegen – die Zahl der Erkrankten ist demnach schlicht zu klein, um mit statistischen Methoden einen Zusammenhang zwischen dem Krebs und möglichen Ursachen herzustellen.
Maus ficht das nicht an. „Untersuchungen zu verschiedenen Krebsformen mit Bezug zu ionisierender Strahlung belegen, dass es doch möglich ist, Zusammenhänge deutlich zu machen, auch wenn diese statistisch nicht sichtbar sind“, heißt es in ihrem Gutachten. Mit der Behauptung, es gebe nicht genug Erkrankte, werde im vorauseilenden Gehorsam das AKW Brokdorf als Risikoquelle ausgeklammert.
Das schleswig-holsteinische Krebsregister hatte in der Auswertung seiner Daten festgestellt, dass die Menschen in Wewelsfleth nicht verstärkt an Blut- oder Lymphdrüsenkrebs erkrankt sind – den Krebsarten, für die radioaktive Strahlung verantwortlich gemacht wird. Stattdessen sei besonders häufig Prostata-, Darm- und Blasenkrebs gefunden worden.
Auch dieses Argument lässt Maus nicht gelten: Die Forschung habe eine große Anzahl von Tumorformen nachgewiesen, die mit geringer radioaktiver Strahlung in Verbindung zu bringen seien. „Außerdem wird eine kombinierte Wirkung mehrerer kausaler Faktoren völlig ignoriert“, schreiben Henken und Storim. Das könne ein Zusammentreffen geringer radioaktiver Strahlung mit dem elektromagnetischen Feld von Stromleitungen oder mit Giften aus der Landwirtschaft sein.
Die Autoren und Unterzeichner fordern daher eine umfassende Untersuchung: die gesamte Umweltbelastung in Wewelsfleth müsse dokumentiert, die Bevölkerung auf Chromosomenschäden untersucht und das Geschlechterverhältnis bei Neugeborenen erfasst werden. Überdies sei das Zusammenwirken der Strahlen aus dem AKW mit der Belastung aus anderen Quellen zu erforschen.
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