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Archiv-Artikel

Angst essen Gelsenkirchen auf

Hier regiert die Schalker Angst: Wie der lebenserfahrene S04-Stürmer Ebbe Sand seinen Kollegen die Angst vor einer Wiederholung der traumatischen Meisterschaftspleite von 2001 zu nehmen versucht

AUS GELSENKIRCHENDANIEL THEWELEIT

Ebbe Sand war der Erste. Kurz nach der Winterpause, als andere Schalker sich noch fürchteten, vom großen Ziel zu sprechen, hatte der Stürmer verkündet: „Wir wollen in diesem Jahr Deutscher Meister werden“. Sand hat damit ein Ziel formuliert, das weit mehr ist als nur ein Wunsch, ein Traum, ein Weg zum Glück. Seit 1958 wartet der Klub auf einen Meistertitel. Und seit 2001 wird die Schale gar zur Bewältigung eines Traumas benötigt. „Ich trage die Bilder von damals im Herzen“, sagt Sand, „und ich werde sie erst vergessen, wenn ich die Schale in der Hand halte“.

Das Scheitern von 2001, die „Meisterschaft der Herzen“. Damals hatten die Königsblauen schon im Parkstadion gefeiert, bevor ihnen der FC Bayern durch ein Last-Minute-Tor in Hamburg den Titel entriss. Seitdem hat sich eine Depression verstärkt, an der die Schalker Fans schon sehr lange Leiden: die Grundstimmung, immer auf der Verliererseite zu stehen. Dem Bundesligaskandal in den 1970er Jahren folgte eine düstere Zeit als Fahrstuhlmannschaft in den 80ern. Und als Schalke 1997 den Uefa-Cup holte, gelang ausgerechnet Erzfeind Borussia Dortmund der Champions-League-Sieg. Schalke dürstet nach dem Titel wie kein anderer Club der Liga. „Man spürt diese Besessenheit überall wo man hinkommt“, sagt Sand.

Allerdings erhöht diese große Sehnsucht den Druck, dem die Mannschaft schon 2001 nicht standhalten konnte. Beim S04-Spiel in Stuttgart ereignete sich damals ein Schlüsselerlebnis für die Schalker Psyche. Ängstlich und vollkommen passiv, wollten sie ein 0:0 über die Zeit retten, bevor Krassimir Balakov in der 90. Minute traf. Fast zeitgleich erzielte Alexander Zickler in München den Siegtreffer für die Bayern gegen Kaiserslautern. Diese beiden Tore machten das Drama vom letzten Spieltag überhaupt erst möglich. Sand erinnert sich: „Daraus haben wir gelernt. Damals haben wir nur noch den Ball hinten rumlaufen lassen und gehofft, dass der Schiri abpfeift. Da haben wir richtig blöd gespielt.“

Angst ist ein Gefühl, das regelmäßig mitspielt, wenn die entscheidenden Punkte im Titelkampf vergeben werden. Irgendwann steht die Arbeit einer ganzen Saison auf dem Spiel und soll zum finalen Höhepunkt geführt werden – und auf Schalke gar zur Überwindung des Traumas. Dann reift die Erkenntnis, wie viel an so einem Fußballspiel hängen kann. Auch am morgigen Samstag in Stuttgart stehe so eine Partie an, sagt Sand. „Die Gefahr der Angst ist schon da, aber das hat auch mit Erfahrung und Routine zu tun, und da sind wir deutlich besser besetzt als 2001“, glaubt der Däne. Damals habe man noch keinen Mladen Krstajic gehabt, auch keinen Ailton.

Fußballer sind oft Meister darin, ihre Ängste im Griff zu halten, die Bedeutung ihres Handelns für die Gefühle der Fans irgendwie zu vergessen. „Doch das Unterbewusstsein spielt immer eine Rolle“, meint Sand, der da eine ganz besondere Erfahrung hat, die ihm hilft, die Bedeutung seines mit Emotionen überfrachteten Berufs zu relativieren. „Richtige Angst hat für mich eigentlich nichts mit Fußball zu tun. Ich hatte 1998 Hodenkrebs, da hatte ich wirklich Angst“, erzählt er. Vielleicht geht Sand auch deshalb relativ gelassen mit dem Druck um, den Mike Hanke von der Ersatzbank ausübt. Hanke drängt nach seinen zwei Toren vom vergangenen Wochenende auf einen Platz in der Anfangsformation, und Sand laboriert an einem gebrochenen Nasenbein – aber wenn Ralf Rangnick ihn lässt, kann er wohl dennoch spielen.

Will der Trainer indes den furchtlosesten Spieler aufstellen, dann müsste er wohl den beeindruckend selbstbewussten Hanke im Sturm platzieren. Denn der 22-Jährige hat eine große Klappe. Er ist abgebrüht, unbekümmert und selbstbewusst. Und er hat sich fußballerisch enorm entwickelt. In der Startformation stand er unter Rangnick aber nur ein einziges Mal, denn der Trainer ist eben ein echter Fan des 32-jährigen Dänen Sand. „Ebbe spielt in diesem Jahr überragend gut, er trifft zwar nicht so oft, aber wie er läuft und Räume öffnet, ist außergewöhnlich. Er ist einer der seltenen Spieler, dem diese Arbeit richtig Spaß macht“. Und Spaß ist vermutlich das allerbeste Mittel, die Angst daran zu hindern, ihr destruktives Werk zu verrichten.