Angriff aufs Gymnasium: Viel heiße Luft

Im Gymnasium lerne man am qualifiziertesten, heißt es allenthalben. Falsch, meint Ursula Leppert. Gymnasiasten sind am ehesten bereit, sich dem Bulimielernen zu unterwerfen.

Unterricht am Gymnasium. Effizienz, Leistungserbringung und Leistungsüberprüfung mit neuen Test- und Evaluationsmethoden sind angesagt. Bild: dpa

Das Gymnasium sei die beliebteste Schulart in Deutschland, heißt es immer. Dort werde qualifizierter und vertiefter Unterricht gehalten. Die Traditionsschule Gymnasium anzugreifen, sei politischer Selbstmord. Der Andrang aufs Gymnasium ist in der Tat groß. Was geschieht dort, dass es vor allem von Politikern, aber auch von Eltern verteidigt wird?

Die Schüler selbst denken anders. Gymnasiasten gehen eher auf die Straße, um für eine andere Schule zu demonstrieren. Denn sie wissen, dass am Gymnasium das getan wird, was an allen anderen Schularten, einschließlich Förder-/Sonderschule geschieht: Es wird gepaukt und geprüft und ausgesiebt.

Nun könnte man dem gegenhalten, dass dieser Vorgang am Gymnasium auf einem höheren Niveau geschieht. Also schwierigere Inhalte intensiver gelernt werden.

Lernen ist ein individueller Prozess, wie die Hirnforschung nun deutlich gezeigt, also einer, der in der Person des Lernenden stattfindet. Und er ist ein aktiver Prozess des Lernenden. Nicht der Lehrer ist der entscheidende Akteur - der Zauberer, der Hampelmann oder das Zirkuspferd, der Blätterausteiler, der Powerpoint-Aktivierer, der Gruppeneinteiler und Alternativenaufzeiger, aber dann doch wieder der Unterrichtsgang- und Lernzielfestsetzende. All diese Aktionen sind schön und gut, entscheidend sind sie nicht.

Entscheidend ist, was in dem Lernenden vor sich geht, ob er die Möglichkeit hat, seine eigenen Gedanken zu entwickeln, seinem Gedankengang und seinen Assoziationen zu folgen und die neuen Einsichten in seine Welt- und Lebensansicht einzubauen.

Etliche Erwachsene reagieren schon allergisch bei der Vorstellung an eigene Gedanken und Interessen der Schüler. Was sind die schon? Sie sind die Stützpfeiler ihres Lernens. Neues Lernen muss an das alte andocken. Eine Brücke wird nicht im freien Raum gebaut, sie muss mit den Pfeilern verbunden werden. So auch das Lernen: Schüler haben sich einen Wissensbereich erarbeitet, fühlen sich auf diesem Feld sicher - es ist ihr Gefühl der Sicherheit, nicht ein von Lehrern verliehenes - und mit diesem Gefühl der Sicherheit und daraus resultierender Zuversicht bewegen sie sich auf ein neues Aufgabengebiet zu. Weil dieses Lernen die Persönlichkeit des Lernenden aufbaut, ist es nachhaltig und produktiv. Zuversichtliche Schüler lernen besser. Ihre Intelligenz steigt. Mangelnde Bildungsinteressen hängen nicht an der Intelligenz, sondern werden durch Armut und andere soziale Umstände vererbt.

Lernen, noch dazu vertieftes, bedarf verschiedener Umstände. Zuerst, eine Selbstverständlichkeit, die so selbstverständlich nicht ist: Es lernt der Schüler. Lernen braucht Zeit und Raum.

Stoff durchpeitschen

Das verkürzte achtjährige Gymnasium, auch als G 8 bekannt, hat diese Zeit nicht. Lehrer, die die Freude und den Erfolg des selbständigen Lernens erlebt haben, kritisieren sehr den Zeitmangel am G 8. Er zwingt sie, vorgeschriebenen Stoff durchzupeitschen und alle schülerorientierten Tätigkeiten einzuschränken. Sie ärgern sich, dass sie wieder die alte Rolle des Paukers annehmen müssen.

Fast tragisch zu nennen ist die Wiederauferstehung dieses Relikts aus der gymnasialen Tradition. Humanistische Weltsicht, verbunden mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, Menschen- und Persönlichkeitsbildung und die Reflexion großer Zusammenhänge schimmern noch heute in der Vorstellung vieler Anhänger dieser alten Eliteeinrichtung. Aber nicht nur der Zeitmangel, auch der Mangel an Raum im wörtlichen und übertragenen Sinn machen solche Bildungsaktivitäten zur Fiktion. Effizienz, Leistungserbringung und Leistungsüberprüfung mit neuen Test- und Evaluationsmethoden sind angesagt. Auch wenn die Leistung - was immer das ist - mit den alten Klassenarbeiten überprüft wird.

Alles Gerede von der Individualisierung des Unterrichts wird zum Nonsens, wenn die individuellen Denkprozesse laufend unterbrochen werden durch gerade nicht individuelle Prüfungen, wie es Klassenarbeiten sind. Hier wird normiertes Wissen abgefragt.

In einer Leistungsgesellschaft lassen sich allgemein verbindliche Wissensnormen nicht vermeiden. Für einen Arbeitsplatz, für den Führerschein und so weiter hat sich der Einzelne bestimmten Kompetenzstandards zu unterwerfen. Auch diese Prüfungen sind angreifbar und willkürlich - jeder kennt solche "ungerechten" Situationen -, aber wir haben nichts anderes als diese genormten Prüfungen, weil wir letztlich nicht wissen, wie geistige Leistung zu messen ist.

Auch in der Schule werden sich Abschlussprüfungen, so unzulänglich sie sein mögen, nicht vermeiden lassen. Aber Prüfungen dieser Art am laufenden Band? In einem Alter, in dem Kinder und Jugendliche ihr Denkvermögen erst entdecken, es entwickeln, Perspektiven konstruieren, ihre Stärken und Schwächen und den Umgang mit ihnen kennenlernen und ihre Persönlichkeit aufbauen? In einer Phase, in der es um sie geht, tritt ständig eine Prüfungsinstanz mit dem Anspruch der Richtigkeit auf und sagt: "Das und das an dir ist falsch!"

Hirn frei

Auch Schüler, an denen weniger Falschheit gemessen wird, und das sind vor allem Gymnasiasten, sehen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. "Ich lerne nur auf Klassenarbeiten, um alles wieder zu vergessen, weil ich auf die nächste Klassenarbeit lernen muss. Immer vergessen, damit ich das Hirn frei hab für das Nächste, das ich wieder vergessen muss, und so weiter", sagt der Schüler eines Gymnasiums. Gymnasiasten sind jedoch eher bereit, sich dieser Prozedur zu unterwerfen, weil am Ende eine Belohnung winkt, das Abitur. Hauptschülern winkt keine Belohnung. Es ist gerade diese klare Einsicht, die sie häufig dazu bringt, die Prüfungsprozeduren der Hauptschule zu verweigern.

Prüfungen verletzen die Individualität der Heranwachsenden, konfrontieren sie ständig mit Dingen, die allenfalls zufällig mit ihren eigenen Denkaktionen zu tun haben. Prüfungen halten als unumstößliches Resultat fest, was ständig im Fluss ist. Denken aber als individueller Vorgang interessiert in der Schule nicht. Denken überhaupt interessiert nicht.

Es geht nicht. Da ist den Lehrern kein Vorwurf zu machen. Im Gegenteil, auch ihr Denken wird auf falsche Pfade gelenkt. Nach einer Phase produktiven Unterrichts droht auch ihnen die Prüfung. Die sie nicht bestehen, die sie aber entwerfen müssen. Sie haben mit den Schülern intensiv gearbeitet, mit welchen Methoden, ist zweitrangig. Selbst der jetzt so geschmähte Frontalunterricht kann als Phase produktiv sein. Wenn es dem Lehrer gelingt, das Interesse der Schüler so zu wecken, dass sie "an den Lippen des Lehrers" hängen und gebannt zuhören, was er ihnen als Neuigkeit, als Denkanstöße zu vermitteln hat. Entscheidend ist, dass sie dann die Möglichkeit haben, selbständig weiterzuarbeiten. Diese Möglichkeit aber wird unterbrochen durch die nächste Prüfung. Schüler sagen es uns klar, aber wir nehmen sie nicht ernst: "Jetzt, wenn wir verstanden haben, um was es geht, wird ein neues Thema begonnen - und wir stehen wieder blöd da."

In der Klassenarbeit geht es nicht mehr um individuelle Denkprozesse, sondern um Sachverhalte, die der Lehrer nun als allgemein verbindlich vorlegen muss. Da geht es dann um Durchschnittswissen, um kanonisch festgelegte Wissensinhalte, die der Lehrplan vorschreibt. Wissensinhalte, die kleinschrittig aufbereitet sind, eindeutig in der Zielrichtung, fern von Problemerwägungen und Grenzen des Wissens. Sollten sich doch Probleme einschleichen, werden Betrachtungen derselben aufgezählt und festgelegt. Sogenannte Selbstverständlichkeiten korrekturfreundlicher Art. Alternativen, subjektive Erwägungen sind Störfaktoren.

Oft sind Prüfungsfragen von einer Einfachheit, die gerade bei Nichtlehrern Verwunderung hervorruft. Aber: Einfachheit ist eindeutiger als Komplexität und sie ist einfacher und eindeutiger zu korrigieren. Dass die Ergebnisse zufällig oder falsch sind, interessiert in unserem Schulsystem nicht. Wer was wie kann - nicht wer wo steht -, lässt sich in Gesprächen viel besser und richtiger feststellen. In Gesprächen, in denen Lehrer und Schüler über Kompetenzen nachdenken.

Die vielen Prüfungen haben mit der Qualität des Unterrichts nichts zu tun. Im Gegenteil, sie stören persönlichkeitsbildendes Lernen. Prüfungen, gleich welcher Art, stören den Unterricht. Sie dienen ausschließlich der Einordnung in unserem gegliederten Schulsystem. Auch dem Gymnasium dienen sie nicht.

Der Ort der abendländischen Bildung mutiert zu einem Ort der Paukerei von Banalitäten. Das Gymnasium lebt von seinem Ruf, von den Projektionen seiner Anhänger, vielleicht auch von Bildungssehnsucht - und von dem Schein, den es nach acht Jahren Paukerei verleiht, dem höchsten Schulabschluss Abitur.

Es ist viel heiße Luft, die den Ballon "Gymnasium" in Höhen treibt. Die vielen Beteiligten, Schüler, Lehrer, Eltern und Bildungspolitiker, können ihre persönlichen Ziele, die gesellschaftlichen Realitäten und die bildungspolitischen Reformnotwendigkeiten kaum mehr erkennen. Vielleicht ist es einfach höchste Zeit, dass dieser Ballon platzt - und den Weg frei macht für einen neue offene Lernkultur für alle.

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