Angela Schanelecs Film "Orly": Stationen des Abschiednehmens
Zwei Stunden am Flughafen Paris-Orly, vier Fragmente von Lebensgeschichten. Angela Schanelecs neuer Film "Orly" ist zärtlich und entspannt - ein Stück Kunst mitten im Leben.
Ein Flughafen ist ein sonderbarer Ort. Mag auch alles vorher und nachher dramatisch, tragisch oder komisch sein, hier kommt es für eine erzwungenermaßen gar nicht einmal so kurze Zeit zur Ruhe. Bemerkenswerterweise ist diese Ruhe vor allem durch ihr Gegenteil, die allfällige Drohung von Terror und Störung, erzwungen, und die Ruhe gibt das auch wieder: der privat so überfüllte Zeitraum ist gleichsam historisch entleert. Tatsächlich ist der Mensch sich hier überlassen, was zugleich schön und furchtbar ist. Eine aufgeladene Passivität, die nichts mit dem heftigen Ankommen/Weggehen auf einem Bahnhof zu tun hat. Schon immer hat das Kino hier große Momente gehabt. Dies ist einer davon.
Gott, möglicherweise, sitzt in einem Flughafen-Wartesaal und beobachtet melancholisch die Menschen, die hier eine sehr merkwürdige Zwischenzeit in ihrem Leben verbringen. Eingreifen kann er nicht in das Leben seiner Geschöpfe. Oder er will es nicht, was bei einem Gott wahrscheinlich das Gleiche ist. Jedenfalls kommt ein solcher Gott des Herumsitzens und Zusehens in dem Brief vor, der am Ende von Angela Schanelecs Film "Orly" aus dem Off gelesen wird, während der Flughafen des Titels wegen einer im Abfalleimer gelandeten Handtasche geräumt wird. Und vielleicht kann man für "Gott" auch "die Kunst" sagen.
Ein langer Gang durch die Stadt, im Kreisen der Kamera verfolgt, eine Frau unterwegs durch ein geschäftig-gewöhnliches Paris, eine Wand mit Fotos, und "Love Will Tear Us Apart" steht da geschrieben. So fängt das an. Angela Schanelec ist eine genaue Beobachterin. Ihre Film-Welt entsteht aus Indizien, und nie wird vorgegeben, dass es etwas anderes ist. Keine Metaphern, keine Symbole. Momente, die miteinander etwas zu tun haben, aber deswegen noch lange nicht füreinander bestimmt sind. Eine Kunst mitten im Leben, und nie mit ihm zu verwechseln.
Für diese Weise der Beobachtung ist der Flughafen ein idealer Zeit-Raum, so ideal, dass die Regisseurin sich für diesmal Entspanntheit, Zärtlichkeit, Ironie leisten kann. Doch keine ihrer "kleinen" Geschichten ist ohne tiefe Traurigkeit. Denn bei allem Neubeginn ist hier noch einmal mit größter Intensität da, was man dafür verlieren muss.
Zwei Stunden also am Flughafen Paris-Orly. Vier Fragmente von Lebensgeschichten: Die Frau, die wir am Beginn gesehen haben, macht sich erst in der Anonymität des Transitraumes daran, den Abschiedsbrief ihres Mannes zu lesen, mit dem sie am Telefon nicht mehr sprechen will. Eine andere Frau, die auf dem Weg nach Hause und zu ihrem Mann in Kanada ist, einem Psychoanalytiker nebenbei, kommt mit einem Musikproduzenten ins Gespräch, der zum letzten Mal nach Los Angeles fliegt, um später für immer nach Paris zurückzukehren; vielleicht ist dies der Anfang einer Liebesgeschichte, ziemlich sicher der Beginn einer Trennung. Dinge verschwinden, der Mantel der Frau und die Fotografie des Sohnes des Mannes (er hat es als Lesezeichen verwendet), sie hat vergessen, ein Medikament für ihren Mann zu besorgen, er hat seine Mutter nicht besucht. Es ist, als würden sich die Indizien ihres verlorenen Lebens treffen.
Mutter und Sohn sind unterwegs zur Beerdigung des Vaters; ihre Beziehung ist gespannt. Sie erzählt von einer Liebschaft, bei der sie aus Versehen dem Liebhaber die Telefonnummer seines Vaters statt der ihren gegeben habe. Er erzählt in drastischen Worten von seiner Liebesgeschichte mit einem anderen Jungen. Auf seiner ersten großen gemeinsamen Reise beginnen sich sanft und furchtbar konsequent die Wege eines jungen Paares zu trennen (seit neun Tagen sind sie unterwegs; neun Tage ist das Kind alt, das eine andere Reisende bei sich hat, ein Foto soll gemacht werden). Bei seinem Strolchen durch die Menge wirkt die Frau vom Beginn seltsam anziehend auf den Jungen. Er holt sich ihr Bild vermittels der Zoom-Funktion aus dem Fluss der Reisenden. Briefe, Fotografien, Telefonate. Verbindungen, die merkwürdig nachhaltig gerade durch ihre Unschärfe werden. Vier Stationen des Abschiednehmens, vier Ketten der Erinnerung.
Grüße von Italo Svevo
Noch ein Indiz: Im Zentrum von "Orly" stehen einige Zitate aus Italo Svevos "Zeno Cosini". Ein Hinweis auf die Erzählstruktur (bei Svevo gibt es sechs einander sanft überlappende Episoden), auf Plot-Figuren (ein junger "zielloser" Student, der sein eigenes Leben als fatales Warten inszeniert) und auf die Frage, wie weit man ein Leben lebt oder von ihm gelebt wird. Sogar der Tod des Vaters, die Figur eines Musikers, der ironische Verweis auf die Psychoanalyse, sowie das Unternehmen zweier Freunde, von denen einer stirbt, sind hier vorgezeichnet, dennoch ist "Orly" natürlich etwas ganz anderes als eine filmische Lektüre des Romans.
Am Ende wird der Flugplatz geräumt, da geht es recht professionell, auch ein wenig zeremoniell zu; man gewöhnt sich daran (wie man sich bei Svevo schon an einen Krieg gewöhnt, bevor er wirklich beginnt, und ohne zu wissen, was er mit den Leben machen wird). Jemand hat eine Handtasche in einen Abfalleimer gestopft; noch einmal lösen sich Inszenierung und Dokument in diesem Film ineinander auf. Der Abschiedsbrief aus der Handlung ist zugleich ein Text über das Geschehen und die Situation; die Empfängerin muss wie all die anderen zurückkehren, deren Flüge ausfielen. Dieser Zeit-Raum des Übergangs bekommt etwas besonders Vertracktes, wenn es nicht zu seiner Auflösung kommt, im Flug. Sie ist zusammen mit einem kleinen Mädchen im Taxi, das auf die Frage, wohin es fliegen wollte, keine Antwort gibt. Eine der Geschichten, die der Film nur andeutet. Es könnte endlos weitergehen, aber andererseits ist auch alles gesagt.
Bei alldem konnten wir Inszenierung, Kamera und Ton auch beim filmischen Denken beobachten. Die drei Grundelemente der Bildkomposition, der kreisende Schwenk, die Tiefenschärfe und die Plansequenz, komponieren noch einmal diese Form von Bewegung im Stillstand und Stillstand in der Bewegung. Der Raum ist von einer konstanten Klang-Vielfalt bestimmt, dennoch sind die Stimmen fast unnatürlich klar und rezitativ. Andere Stimmen schieben sich immer mal wieder kurz vor die Dialoge; eine Melodie der Handy-Töne, der Sprachen und Gesten. Ein Kind heult, weil man ihm für den Flug das Holzfahrrad wegnimmt. Randwahrnehmung nennt man das wohl, aber an diesem Ort und in diesem Film sind die Instrumente der Wahrnehmung geschärft. Übrigens auch die der Selbstwahrnehmung. Musik ist auch die Sprache, eine offene Komposition, bei der (vielleicht eignet sich da in der Tat das Französische besser als das Deutsche) die Teile nicht vollständig aufgehen im Ganzen. "Joseph sagt immer, ich spreche nie zu Ende, das macht ihn nervös, doch wenn ich es tue, ist er enttäuscht und ich auch." Das beleidigt, svevoesk, nicht nur die Psychoanalyse, es beschreibt die Falle der Sprache: Man muss von Liebe, Tod, Schuld und Verlust sprechen, und es ist zugleich unmöglich.
Schwall der Erinnerungen
Das Indiz ist ein Zeichen, dessen Bedeutung erst gefunden werden muss. So verbergen sich Offenbarungen in Banalitäten, so kommt das homosexuelle Bekenntnis aus einem Schwall der Erinnerungen und der Versuche, sich zu arrangieren; nie sind die Motive der Menschen eindeutig, Berechnung und Mitleid sind nahe beieinander. Manchmal reden die Menschen, als müssten sie dabei fürchterliche Widerstände überwinden, und manchmal ist der Fluss kaum aufzuhalten. Manchmal geht es zu langsam, manchmal zu schnell. Das ist die Kunst, die nicht an die Natur glaubt und deswegen nicht eingreifen kann.
Angela Schanelec hat während des normalen Betriebes im Flughafen gedreht. Hier holt sich das Teleobjektiv die Episoden aus dem ewigen Fluss von Ankommen, Abfliegen und Warten, sehr viel, sehr unterschiedliches Warten. Zu jeder Geschichte könnte man sozusagen auch ein Chanson schreiben. Ein Melodram drehen. Oder sie mit einem Achselzucken abtun. Und es macht diese Gleichzeitigkeit von Spiel und Dokument, die vollkommene Flüssigkeit des Übergangs die eigentliche Poesie des Filmes aus. Dadurch werden die Schauspieler zugleich theatralisch (nichts an den Dialogen ist improvisiert, hier geht es um jedes Wort) und real; Kamera und Ton folgen dabei dem gleichen Prinzip, eine Klarheit herzustellen, ohne das Umfeld auszublenden oder zu "inszenieren". Ein Herausgegriffensein, bei dem stattdessen die Episoden und Schauspieler in die Wirklichkeit hineininszeniert sind. Die Menschen am Flughafen werden nicht Hintergrund; sie sind gleichsam das Medium, in dem erzählt wird.
Die Vertreter der "Berliner Schule" öffnen sich; die "Sperrigkeit" ihrer Filme war vielleicht sowieso eine Mischung aus Kritiker-Projektion und Mainstreaming-Überdruck. Während Thomas Arslan mit "Im Schatten" einen wundervollen Gangsterfilm vorlegt, einen der wenigen hierzulande, die diesen Namen verdienen, erteilt auch Angela Schanelec in "Orly" eine sehr unbefangene und freundliche Einladung, ihr an einen Ort der vertrauten Fremde zu folgen. Solche Filme brauchen nicht nur Preise und euphorische Kritiken. Solche Filme brauchen Zuschauer.