Andrea Riek über Trauerreden: "Ein Toter schläft nicht"

Als "verwaiste Mutter" wählte die Hamburgerin Andrea Riek einen eigenwilligen Weg: Sie verdrängte den Tod ihrer Tochter nicht, sondern wurde Trauerrednerin. Ein Traumberuf, sagt sie, weil er extreme Nähe erlaubt und absolute Ehrlichkeit erzwingt.

Lässt den Verstorbenen ihre Marotten - und ihre Würde: Trauerrednerin Andrea Riek. : Miguel Ferraz

taz: Frau Riek, was ist das Wichtigste an einer Trauerrede?

Andrea Riek: Ehrlichkeit.

Seit wann wissen Sie das?

Seit ich vor einigen Jahren auf Trauerfeiern im Bekannten- und Familienkreis erlebt habe, dass Pastoren und Redner Dinge erzählten, die nicht stimmten. Über einen Onkel hieß es da, er sei ein Familienmensch gewesen. Aber das war er nicht! Als ich das hörte, wurde mir klar: Das will ich anders machen, das ist mein Weg. Ich möchte in Würde über die Verstorbenen sprechen, aber weder Dinge beschönigen noch hinzudichten.

War das der einzige Grund für Ihre Berufswahl?

Nein. Der wichtigere ist, dass 1997 meine fünfjährige Tochter starb. Diese Erfahrung hat mich sehr konkret mit dem Tod konfrontiert. Ich habe mich dann viele Jahre lang bei den "Verwaisten Eltern und Geschwistern" engagiert und mich seither kontinuierlich mit dem Thema befasst.

Sie haben sich dann zur Trauerrednerin ausbilden lassen.

Ja, das war vor sechs Jahren. Ich war damals im kaufmännischen Bereich tätig und habe gekündigt, ohne zu wissen, wie es weitergehen könnte. Zwei Jahre habe ich dann am Hamburger Institut für Trauerarbeit gelernt und Praktika bei verschiedenen Bestattern absolviert. Dann habe ich ein bisschen Sprachunterricht genommen und habe angefangen, Kunden zu akquirieren. Es funktionierte. Seither habe ich die Reden immer so gehalten, wie ich sie gern für meine Trauerfeier oder die von Freunden und Verwandten hätte.

ANDREA RIEK 47, ist seit sechs Jahren freiberufliche Trauerrednerin.

Auslöser war der Tod ihrer fünfjährigen Tochter im Jahr 1997.

Verarbeitet hat sie die Trauer unter anderem bei den "Verwaisten Eltern und Geschwistern Hamburg e.V.", deren Vorsitzende sie von 2001 bis 2011 war.

Beruflich hatte sie sich bis dato unter anderem als Bürokauffrau, Stewardess, Maklerin und Leiterin einer Single-Agentur betätigt. Seit einigen Jahren wirkt sie zudem als Hochzeitsrednerin beziehungsweise -moderatorin.

Aber wenn ein Mann seine Frau schlug, würden Sie es schon verschweigen.

Es kommt darauf an. Wenn die Angehörigen mir das verschweigen, kann ich es natürlich nicht sagen. Wenn sie es mir sagen und erwähnt haben möchten, weil es ihn ausgemacht hat - oder wenn es zum Beispiel ein Alkoholproblem gab, mit dem der Verstorbene offen umging -, dann erwähne ich es schon. Und manche Eigenschaften kann man ja auch so umschreiben, dass nur Eingeweihte verstehen, was gemeint ist.

Wie offen können Sie die frisch Trauernden überhaupt befragen?

Ich bin da sehr direkt, und das kann man auch. Ich mache jedenfalls gute Erfahrungen damit. Angesichts meiner Vorgeschichte bringen mir die Menschen wohl auch deshalb Vertrauen entgegen, weil sie wissen, dass ich dasselbe durchgemacht habe.

Sie erwähnen den Tod Ihrer Tochter jedes Mal?

Nein, aber es steht ja auf meiner Homepage. Im Gespräch erwähne ich es nur, wenn man mich fragt, warum ich diesen Beruf ergriffen habe. Manche erfahren es auch zufällig.

Das heißt?

In einem Fall war ein 16-jähriger Junge gestorben, und die getrennt lebenden Eltern wollten sich in meiner Wohnung treffen - auf neutralem Boden. Die Mutter wirkte sehr gefasst, stand noch unter Schock. Dann sah sie ein Foto meiner Tochter bei mir stehen, und ich habe meine Geschichte erzählt. Als die Mutter das hörte, fiel alle Erstarrung ab und sie weinte sehr lange. Es war, als hätte sie jetzt erst die Erlaubnis bekommen zu trauern.

Verlaufen die Gespräche mit den Trauernden immer ähnlich?

Strukturell ja, inhaltlich natürlich nicht. Was sofort heraussprudelt und viel Raum einnimmt, sind die Krankengeschichte und das Sterben, denn das haben die Menschen ja gerade sehr intensiv erlebt. Dann sprechen wir über das Leben des Verstorbenen - was ihn ausgemacht hat und was Besonderes an ihm war.

Und einige dieser Geschichten erwähnen Sie in Ihrer Rede.

Ja, und manchmal erweitere ich sie auch. Einmal zum Beispiel war ein sehr alter Herr gestorben, über den mir die Enkel und Urenkel viel erzählt haben. Meine Gedenkrede habe ich dann mit einer erfundenen Geschichte begonnen: Ich konnte ihn mir sehr gut vorstellen, wie er als Junge mit dem Fahrrad durch Masuren fuhr, nach der Schule den Ranzen erstmal in die Ecke warf und rausging.

Wie kam das an?

Die Urenkel haben mir später gesagt, sie hätten da die Augen geschlossen und sich den Urgroßvater als Kind vorgestellt. Das sei ein wunderschöner Moment gewesen.

Erwähnen Sie in ihrer Rede auch Krankheit und Leiden?

Ich erwähne, woran derjenige gestorben ist. Aber ich erzähle nicht die ganze lange Krankengeschichte. Wichtig ist mir allerdings, die Worte "tot" und "gestorben" auszusprechen. Und nicht zu sagen, derjenige sei "eingeschlafen" oder so etwas.

Warum ist Ihnen das wichtig?

Weil es die Realität ist. Ein Toter "schläft" nicht. Ich habe mal einen Grabredner sagen hören, der Verstorbene "schlafe in ewiger Ruhe". Das fand ich unverantwortlich, denn hinter ihm stand ein Siebenjähriger. Was soll er denken? Dass man sich schlafen legt und eventuell nicht mehr aufwacht? Soll er sich künftig vorm Schlafengehen fürchten? Schlafen und tot sein ist ein himmelweiter Unterschied, und den muss man benennen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Inwiefern?

Als meine Tochter krank war, wollte uns der Arzt im Krankenhaus schonend darauf vorbereiten, wie es ausgehen könnte. Er redete lange um den heißen Brei herum. Irgendwann habe ich ihn angeschrien und gefragt: "Was wollen Sie mir eigentlich sagen?" Erst als er sagte: "Sie kann sterben", begriff ich, wie ernst die Lage war und konnte nichts mehr beschönigen.

Fallen Ihnen Trauerreden für Kinder besonders schwer?

Nein. Aber wenn ein Kind gestorben ist, werde ich zunächst meist ziemlich wütend.

Auf wen? Auf Gott?

Auf einen Gott möchte ich mich nicht festlegen. Ich würde mich durchaus als religiös bezeichnen und setze mich mit dem Thema auseinander. Aber es gibt für mich zu viele Fragen, mit denen ich nicht einfach so leben kann. Deshalb würde ich sagen, dass ich jedenfalls nicht an "den" Gott glaube. Nein, ich frage keinen Gott nach den toten Kindern. Ich hinterfrage allgemein, warum Kinder sterben müssen.

Brechen beim Tod fremder Kinder Ihre eigenen Wunden wieder auf?

Meine persönliche Wunde trage ich in mir. Ich würde auch nicht sagen, dass die Zeit sie geheilt hat. Meine Trauer hat sich verändert, aber die Wunde wird mein Leben lang bleiben. Aber sie mischt sich nicht mit der Trauer, die ich empfinde, wenn ich eine Gedenkrede halte.

Trösten Sie die Hinterbliebenen auch?

Ja, natürlich. Aber ich würde nie irgendetwas wegtrösten wollen. Weder die Sehnsucht noch die Wut etwa angesichts eines Suizids, den man nicht verhindern konnte. All diese Gefühle, die herausbrechen, wenn der Tod uns berührt, müssen Raum haben. Wenn jemand sehr weint, weil er gerade große Sehnsucht empfindet, würde ich nicht versuchen, das wegzutrösten, indem ich sage, "Das wird schon wieder" oder "Du kannst doch noch mehr Kinder bekommen".

Was sagen Sie stattdessen?

Ich formuliere, was ich selbst erlebt habe: dass man sich wie amputiert vorkommt. Aber wenn ein Bein amputiert wird, sieht es jeder. Eine Amputation am Herzen - symbolisch gesprochen - sieht man nicht. Andererseits kann ich für das amputierte Bein eine Prothese bekommen und lernen, auf Krücken zu laufen. Auch mit dem "amputierten Herzen" kann ich weiterleben. Aber verändert. Auch mit einer Krücke kann ich ja nicht so laufen wie vorher.

Verarbeiten Sie durch Ihren Beruf auch eigene Trauer?

Man ist natürlich nie fertig auf diesem Weg der Trauer. Mein Beruf, der für mich ein Traumberuf ist, hilft mir insofern, als ich ihn durch den Tod meiner Tochter gefunden habe. Es hilft mir, dass ich mit Menschen zu tun haben darf. Und zwar in einem zutiefst ehrlichen Sinne. Weil sie Gefühle zeigen. Weil sie vor mir weinen, wenn sie traurig sind. Das ist ein enormer Vertrauensbeweis. In solchen Momenten teilen wir etwas ganz Besonderes.

Können Sie auch etwas geben?

Ich glaube ja. Weil ich so genau weiß, was sie durchleben, kann ich ihre Gefühle in Worte fassen. Und ich kann ein Hoffnungsschimmer sein, weil ich den Tod meiner Tochter "überlebt" habe und wieder ein sehr glücklicher Mensch geworden bin.

Treffen Sie manchmal Menschen, die nicht trauern, weil der Verstorbene schwierig war?

Ja. Aber ich würde nicht sagen, dass sie gar nicht trauern. Sie trauern anders, empfinden weniger Sehnsucht, als Respekt vor dem Toten. Denn wenn sie ihn gar nicht würdigen wollten, hätten sie mich nicht engagiert. Sondern anonym bestattet.

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