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An lachenden Menschen und blödelnden Kinder vorbeiNacht ohne Zugabe

ausgehen und rumstehen

von Saskia Hödl

Als ich an der Boddinstraße aus dem Bus steige, wuselt es. Es ist Freitagabend. Gehupe, Staub, Musik aus dem türkischen Laden. Es riecht nach gebrannten Mandeln und Neuköllner Sommerabend. J. ruft an, sie kommt zu spät, ich kann mir den Laufschritt sparen und schlendere weiter. Wir sind im Circus Lemke verabredet.

Es ist kurz nach 8 Uhr abends, und ich kann mich nicht erinnern, diese Bar jemals so leer gesehen zu haben. Wahrscheinlich war ich auch noch nie so früh da. Drinnen riecht es nach abgestandenem Rauch, der darauf wartet, von frischem überdeckt zu werden. Draußen riecht es nach Pisse. Ich setze mich an einen wackelnden Tisch vor dem Lokal und bestelle ein Glas Wein. Einige Minuten später schwingt sich J. von ihrem Rad, ich frage, wie das Leben ist, sie fragt, wie der Urlaub war. J. holt Bierdeckel und hilft dem Tisch, ruhig zu stehen. Ich erzähle ihr, dass ich eine Wohnung suche, und überlege weiter rauszuziehen. Sie sieht mich kurz mit großen Augen an, aber es dauert nicht lang, und sie zeigt Verständnis für die Szeneflucht. Wahrscheinlich liegt es am Pissegeruch.

Wir machen uns auf in den Keller. Also in die „Kulturstätte Keller“ in der Karl-Marx-Straße, wo der Singer/Songwriter Sway Clarke II, ein Wahlberliner aus Kanada, den Release seiner EP „Bad Love“ feiert. J. schiebt ihr Rad, wir laufen die Flughafenstraße entlang, an lachenden Menschen und blödelnden Kindern vorbei, es wird langsam dunkel. Der Keller ist in einem gekachelten Hinterhaus. An der Kasse drückt eine Frau einen Stempel auf mein Handgelenk, er hinterlässt ungeliebten, weil übergriffigen Imperativ: „Smile“.

Shelly Phillips sitzt schon auf der Bühne. Sie ist Vorkünstlerin und sieht anders aus als 2012, als sie bei der Song-Contest-Show „Unser Star für Baku“ bis ins Halbfinale kam. Sie singt auch anders – irgendwie konsequenter, vielleicht ausgeglichener. Sie sitzt in Lederjacke, Boots und Jeans an ihrem Piano und singt über Berlin, und dass man hier man selbst sein kann. J. kommt von der Bar und drückt mir ein Gin Tonic in die Hand.

Die zweite Vorband ist Prada Meinhoff. Ein Duo, bestehend aus der wundervollen Sängerin Christin Nichols, die einen halb durchsichtigen Glitzeroverall mit einer Eleganz trägt, dass es eine Freude ist, und dem Bassisten René Riewers, der offenbar gern ohne Shirt und auch in Sway Clarkes Band spielt. Sie bieten eine Art deutschen Electro-Punkrock, der stellenweise an Muse, dann wieder an Mia und Florence and the Machine erinnert und dann wieder an keinen der drei.

Als Sway Clarke schließlich die Bühne betritt, wird es enger, stickig ist es schon seit einer Weile. Er trägt eine Panto­brille, und sein leicht zerzaustes dunkles Haar guckt unter einer Vintage-Schirmmütze hervor. Weder J. noch ich sind mit seiner Musik vertraut. Auf Facebook steht, er ist „stark beeinflusst von HipHop und Folk“, dass er „einen sehr fragwürdigen Sinn für Humor“ habe und seine Musik Folk Hop Pop sei. Er spielt mit seiner dreiköpfigen Band seine durchaus eingängige Version von Blurs „Boys and Girls“, und ich überlege, ob er mich an Frank Ocean oder doch an The Weekend erinnert.

Die tanzende Frau vor J. stößt sie ständig mit dem Rucksack. J. rollt mit den Augen. Clarke spielt „Secret Garden“, „I Don’t Need Much“ und „Tangerine“. Irgendwann zwischendurch erklärt er durchaus nachvollziehbar, dass er nichts von Zugaben hält, weil das doch alles nur ein überholtes Theater sei. Dass er für meinen Geschmack einen Tick zu viel über Drogenkonsum redet, macht er zumindest an diesem Abend mit seiner bemerkenswerten Stimme wett.

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