■ Amos Oz auf der Kundgebung in Tel Aviv am 4.9.1993:: Die Minenfelder des Herzens räumen!
„Die Forderung der Palästinenser nach Selbstbestimmung ist legitim. Man kann die Verwirklichung dieser Forderung unter Hinweis auf die Gefährdung des Staates Israel hinauszögern, aber man kann sie nicht im Prinzip verwerfen.
Wo ein Recht mit einem anderen Recht zusammenstößt, kann die Streitsache entweder durch Gewalt entschieden werden oder durch irgendeinen unvollkommenen Kompromiß, der von keiner der Parteien als wirklich gerecht angesehen wird. Solch ein Kompromiß ist nur zu haben, wenn weder die palästinensische noch die zionistische Sache mit vollständiger Konsistenz verfochten wird. Im Besitz der Gerechtigkeit, der absoluten und allumfassenden Gerechtigkeit, wird natürlich stets die Seite sein, die argumentiert, zwischen Ramle in Israel und Ramallah auf der Westbank, zwischen Gaza und Beer-Sheva gebe es keinen prinzipiellen Unterschied. Genau so tritt die extremistische israelische und die extremistische palästinensische Partei auf. Jede will alles – für sich allein.
In den Beziehungen zwischen Menschen wie zwischen Nationen passiert es manchmal, daß eine zerbrechliche Form des Zusammenlebens dadurch gefunden wird, daß sich die Partner inkonsistent verhalten. Die Helden jener Tragödien, die von dem Verlangen nach Konsequenz getrieben und von der Überzeugung verzehrt werden, im Recht zu sein, zerstören einander. Wer die totale, die höchste Gerechtigkeit sucht, sucht den Tod.“
26 Jahre ist es her, daß ich diese Zeilen geschrieben habe, kurz nach dem tragischen, gerechten israelischen Sieg 1967 im 6-Tage- Krieg. Man kann in ihnen auch heute noch eine halbwegs genaue Zusammenfassung der Ansichten sehen, die die israelische Friedensbewegung vertritt. An diesem Abend, an dem unsere Bewegung hier in Tel Aviv demonstriert, sieht es danach aus, als ob diese Ansichten endlich den israelisch-palästinensischen Konflikt bestimmen werden. Aber vergessen wir keinen Augenblick, daß wir noch weit vom Ende des Dramas entfernt sind. Was heute abläuft, ist bestenfalls das Ende des Prologs.
Unsere gemäßigten, pragmatischen Prinzipien werden nun von der israelischen Regierung und der Führung der PLO übernommen, aber um uns herum ist die Wirklichkeit noch durchtränkt von Haß und Mißtrauen. Kein Anlaß für Feierlichkeiten, sondern für noch größere Anstrengungen, für noch mehr Verantwortlichkeit. Es ist schon schwer genug, die Politik der Führung zu ändern. Noch schwerer wird es sein, die Herzen und die Hirne der Menschen zu ändern, in denen Haß und Furcht über Jahrzehnte hinweg gespeichert wurden. Aber genau darin besteht ab heute unsere Aufgabe. Wir sind nicht länger die Propheten des Untergangs, nicht länger eine Protestbewegung. Jetzt müssen wir zu Pionieren werden, deren Job es sein wird, am Tag nach der Schlacht die Minenfelder zu beseitigen.
Aber diese harte Arbeit, emotionale Minen zwischen Israelis und Palästinensern zu entschärfen, wird nur dann gelingen, wenn, parallel zu der unseren, eine palästinensische „Frieden Jetzt!“-Bewegung entsteht und sich ans Werk macht, die explosive Mischung aus Wut und Bitterkeit im eigenen Volk zu besänftigen.
Ihre wie unsere Straßen hallen wider vom häßlichen Geschrei der Fanatiker, die keinem Kompromiß zugänglich sind. Bei den Palästinensern wie auch bei uns ertönt der hysterische Ruf: Verrat! Von beiden Seiten hören wir dunkle Drohungen, diesen neuen Frieden zu ersticken, ehe er überhaupt die Chance hat, auf eigenen Füßen zu gehen. Laßt uns die israelischen Anstifter warnen, die den Friedens-Embryo dadurch töten wollen, daß sie das Gesetz in die eigenen Hände nehmen: Wir werden es mit der gleichen Entschlossenheit verteidigen, mit der wir in der Vergangenheit, ohne zu zögern, unser eigenes Leben auf den Schlachtfeldern verteidigt haben. Das Gegenteil des Friedens ist nicht, wie die Fanatiker meinen, „die Liebe zum Land Israel“, sondern die Fortsetzung von Tod und Zerstörung. Erinnern wir uns, daß es palästinensische Demagogen und Anstifter waren, die über ihr Volk Jahrzehnte des Leidens, der Entbehrungen und des Exils gebracht haben. Die israelischen Demagogen und Anstifter haben ihrerseits nichts unversucht gelassen, jeden Ansatz zu einem Kompromiß zwischen uns und den Arabern abzuwürgen. So war es am Vorabend des Friedensvertrags mit Ägypten, und so war es 1947/48, als Israel auf der Basis einer ursprünglich gemeinsamen Übereinkunft, das Land zwischen uns und den Palästinensern zu teilen, entstanden war. Glücklicherweise haben die Fanatiker fast jedesmal, wenn es zum „Augenblick der Wahrheit“ kam, verloren. Die Idee eines fairen und realistischen Kompromisses obsiegte. Auch diesmal wird diese Idee sich durchsetzen.
Vergessen wir aber nicht, daß wir hier in Israel nicht nur mit dem Widerstand der Demagogen und Anstifter konfrontiert sind. Es gibt eine Menge anständiger Israelis, die fühlen, daß mit dem Abkommen zwischen Israel und der PLO eine Welt für sie zusammenbricht. Viele Menschen in diesem Land glauben aufrichtig, daß das Abkommen nicht mehr ist als eine raffinierte Täuschung, dazu bestimmt, dem Feind einen Brückenkopf für unsere künftige Zerstörung einzuräumen, ein unverantwortliches Spiel mit unserer künftigen Sicherheit. Unsere Aufgabe kann nicht darin bestehen, die Ängste dieser Menschen zu verspotten und uns mit einem Scheinsieg über sie zu erheben. Tatsache ist, daß wir alle einige dieser Zweifel und Ängste teilen. Unsere Rolle besteht jetzt darin, das Menschenmögliche zu versuchen, um die Skeptiker zu überzeugen, daß wir nicht Opfer der Droge „Frieden um jeden Preis“ geworden sind. Daß das Abkommen vorsichtig ist und genau kalkuliert. Daß die Probleme unserer nationalen Sicherheit selbst für den Fall des Rückzugs der Palästinenser von den Friedensanstrengungen einkalkuliert sind. Daß das Risiko, das wir jetzt eingehen, geringfügig ist gegenüber dem möglichen Schrecken, der uns erwartet, wenn wir jetzt die Chance für den wirklichen Beginn eines Friedensprozesses verpassen. Die Friedensbewegung muß jetzt jede Form von hohlem Protest vermeiden. Sie sollte von der Versuchung Abstand nehmen, die Regierung jedesmal dann zu mehr Konzessionen zu pressen, wenn die Verhandlungen in Schwierigkeiten geraten. Wir tragen ab jetzt Verantwortung dafür, daß die Regierung den Kurs hält, den wir so lange vorgeschlagen haben. Die Friedensbewegung sollte sich auf ihre neue Aufgabe konzentrieren, einen intensiven öffentlichen Dialog mit denjenigen zu führen, die noch zögern, die neue Realität zu akzeptieren. Wir werden keine Chance haben, eine Versöhnung zwischen uns und den Palästinensern zustande zu bringen, wenn es uns nicht zur gleichen Zeit gelingt, die emotionale Spannung im israelischen Volk zu deeskalieren. Jetzt ist es an der Zeit zu beweisen, daß die israelische Friedensbewegung über den Willen und die Fähigkeit verfügt, auch zu einer Bewegung für den inneren Frieden in unserem Land zu werden – freilich niemals um den Preis, unsere eigenen Prinzipien und Visionen zu opfern. Aber vielleicht doch um den Preis, unser Verlangen aufzugeben, mit der israelischen Rechten für all das abzurechnen, was wir so viele Jahre lang von ihr schlucken mußten.
Zwischen den Israelis und den Palästinensern stehen Haß und Liebe. Der Haß ist das Ergebnis so vieler Jahre ununterbrochenen Kampfes. Eines Kampfs, der seinen Ursprung in der Liebe hat, die uns beide an die gleiche Heimat bindet. Nichts auf der Welt kann die Liebe abtöten, die beide Nationen für diese Heimat empfinden. Beide Völker haben hinreichend Beweise dieser Liebe gegeben, durch ihre Opfer, durch ihr Gedächtnis, durch ihre Anhänglichkeit. Vielleicht erleben wir jetzt die Dämmerung einer neuen Ära, in der unsere Liebe und ihre Liebe aufhören, der Grund gegenseitigen Hasses zu sein.
Zwei dickköpfige Völker, geübt darin, Leiden und Verfolgung zu ertragen, zwei Völker, die im generationenlangen Kampf gegeneinander bewiesen haben, daß sie über Entschlußkraft und Hingabe verfügen. Für sie beide eröffnet sich jetzt die Chance, ihre Energien darauf zu richten, endlich ihr getrenntes Doppelhaus aufzubauen.
Ein langer und bitterer Konflikt kann manchmal zu einer geheimen und tiefen Vertrautheit der Feinde führen. Jetzt wäre es an der Zeit, daß diese Vertrautheit zwischen Israelis und Arabern für die Ziele des Wiederaufbaus und der Heilung genutzt wird. Ein langer Weg, den wir zu gehen haben, voller wütender Leidenschaften und Enttäuschungen. Aber an seinem Ende können wir jetzt die ersten, zögernden Lichter der Hoffnung sehen. Diese Lichter flackern gerade jetzt, an diesem wunderbaren Abend, in vielen Fenstern von Ramallah und Natanya, von Jenine und Afula, in den Dörfern und Flüchtlingslagern. Es sind neue Lichter, noch vor Überraschung blinzelnd wie die Augen eines Menschen, der nach lang erduldeter Dunkelheit plötzlich an den hellen Tag tritt. Laßt uns unseren Lichtern und laßt den Palästinensern ihren Lichtern Kraft geben! Laßt uns sie schützen und verteidigen!
Denn wir werden nicht für immer unter dem Schwert leben. Und der Tod wird nicht Herrscher bleiben!
Amos Oz
Israelischer Schriftsteller und Friedensaktivist
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