Am grünen Band: Grenzerfahrung mit dem Rad
Nachhaltiger Tourismus im Grüngürtel der Geschichte: Nicht nur Berlin und Deutschland, ganz Europa war gespalten. Deshalb wirbt der grüne Verkehrspolitiker und Europaparlamentarier Michael Cramer erfolgreich für Rad- und Wanderwege entlang dem ehemaligen Eisernen Vorhang
taz: Herr Cramer, seit dem Mauerfall sind Sie aktiver Grenzschützer. Wie kam es dazu?
Michael Cramer: Als die Berliner Mauer fiel, haben der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club und wir Grüne sofort gesagt: Die Mauer muss weg, aber wir wollen die Erinnerung sichtbarmachen. Zum 40. Jahrestag des Mauerbaus 2001, als nur noch wenige Spuren vorhanden waren, haben wir erreicht, dass die noch verbliebenen Mauerreste unter Denkmalschutz gestellt werden und der 160 Kilometer lange Berliner Mauerweg ausgeschildert wird. Jetzt ist er nahezu fertig. Mit den „Mauerstreifzügen“, die ich seitdem jeden Sommer, alle 14 Tage samstags, als öffentliche Radtouren am Mauerweg entlang durchführe, kann man Geschichte, Politik und Kultur in Berlin wirklich erfahren.
Sie gelten als der "Vater des Mauerwegs". Gab es für den Mauerweg ein Vorbild?
Ja, den Boston Freedom Trail. Das ist ein schöner Fußweg an einem fünf Kilometer langen roten Streifen entlang, der die Bostoner Orte des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs verbindet und an sie erinnert.
Inzwischen haben Sie die Berliner Erfahrungen mit dem Mauerweg auf ganz Deutschland übertragen.
Nicht nur Berlin war gespalten, sondern auch Deutschland. Deswegen habe ich mich für den deutsch-deutschen Radweg starkgemacht. Kürzen Sie mal ab!
Deutsch-deutscher Radweg – DDR.
Ja, wir wollen auch hier, dass kein Gras über die Geschichte wächst. Der deutsch-deutsche Radweg verläuft entlang dem Grünen Band von der Ostsee bis zur tschechischen Grenze. Das Grüne Band war eine Initiative der Naturschutzverbände, besonders vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, um den ehemaligen, fast 1.400 Kilometer langen Grenzstreifen zu erhalten. Denn auf dem stellenweise 20 bis 30 Kilometer breiten Grenzstreifen konnten sich Fauna und Flora jahrzehntelang ungestört entfalten, weil dort kein Mensch hinkam. Das Grüne Band ist die Umwandlung des früheren Todesstreifens in einen Lebensraum.
MICHAEL CRAMER
Der 58-Jährige ist verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament. Und ein Mann mit Grenzerfahrungen: Zunächst nahm er den Berliner Mauerweg unter die Räder, dann dokumentierte er den deutsch-deutschen Radweg, und jetzt engagiert er sich für den europaweiten Iron Curtain Trail, einen Radwanderweg entlang dem ehemaligen Eisernen Vorhang.
Stört der Radweg nicht die Ruhe der Natur?
Nein, beides lässt sich miteinander verbinden. Man kann das Grüne Band nur schützen, wenn man es kennt. Und wie könnte man es besser kennenlernen als beim Radfahren.
Wie können Radler nicht nur die Natur, sondern auch die Geschichte an dem ehemaligen Grenzstreifen erfahren?
Die Geschichte spielt eine große Rolle, letztlich ist die Historie die Attraktion des Wegs. An der ehemaligen innerdeutschen Grenze findet man mehr als 300 historische Zeugnisse: Kreuze, die an erschossene Flüchtlinge erinnern, Grenztürme, die zu Museen ausgebaut wurden, Mauermuseen wie in Schnackenburg oder Grenzanlagen mit musealem Charakter wie in Mödlareuth.
Der deutsch-deutsche Radweg ist nur eine Zwischenetappe zu Ihrem großen Ziel, dem Iron Curtain Trail.
Nicht nur Berlin und Deutschland, ganz Europa war gespalten. Deshalb habe ich die Idee eines europaweiten Rad- und Wanderwegs entlang dem ehemaligen Eisernen Vorhang ins Europäische Parlament eingebracht und dafür eine große Mehrheit gefunden – als Symbol für die Wiedervereinigung Europas und als Beispiel für sanften Tourismus. Seit 2006 wird das Projekt im EU-Haushalt unter dem Titel "Nachhaltiger Tourismus" erwähnt und finanziell gefördert.
Wo verläuft der Iron Curtain Trail?
Von der Barentsee an der norwegisch- russischen Grenze quer durch Europa bis zum Schwarzen Meer an der bulgarisch-türkischen Küste. Er tangiert auf einer Länge von 6.800 Kilometern 20 Länder, darunter 14 EU-Staaten.
Sind Sie die gesamte Strecke selbst abgeradelt?
Anders als beim deutsch-deutschen Radweg konnte ich natürlich nicht alles selbst abfahren. Zum einen habe ich auf bereits bestehende Radwege wie an der Ostseeküste, der Elbe oder der Donau zurückgegriffen, zum anderen habe ich durch meine Kontakte im Europaparlament Radbegeisterte gefunden, die Teilstrecken abgefahren sind und sie beschrieben haben. Ein finnischer Grüner hat die Etappe von der norwegisch-finnisch-russischen Grenze bis nach Helsinki gemacht, ein Freund aus dem Baltikumist dann bis Tallinn, anschließend ein Viadrina-Student aus Frankfurt (Oder) bis zur deutsch-polnischen Grenze geradelt. Ein tschechischer Grüner und ein ungarisches Mitglied des Europäischen Fahrrad-Clubs beschreiben den tschechischen und ungarischen Teil, den Rest bis zum Schwarzen Meer radelte ein Berliner Freak ab, der sich dort gut auskennt.
Wann ist der Iron Curtain Trail fertig?
Noch in diesem Jahr gebe ich eine Infobroschüre auf Englisch und Deutsch heraus. Und 2009 erscheint zum 20. Jahrestag der osteuropäischen Revolutionen ein Radtourenbuch im Verlag Esterbauer mit der Beschreibung der gesamten Route und dem notwendigen Kartenmaterial.
"Europa ist wie ein Fahrrad, hält man es an, fällt es um", sagte Jacques Delors, der ehemalige Präsident der EU-Kommission.
Ein wunderbarer Vergleich. Europa muss sich immer weiter entwickeln, Stillstand ist gefährlich. Zum Projekt Europa und zur Förderung der europäischen Identität kann auch der Iron Curtain Trail beitragen. Dabei ist das Fahrrad das ideale Verkehrsmittel. Man kommt schnell genug voran, um viel zu sehen, ist aber langsam genug, um nicht an allem vorbeizurasen.
INTERVIEW: GÜNTER ERMLICH
Die Termine der Berliner "Mauerstreifzüge 2008" (vom 7. Juni bis 13. September alle 14 Tage samstags) stehen auf der Homepage www.michael-cramer.eu
Michael Cramer: "Deutsch-Deutscher Radweg. Am Grünen Band von der Ostsee zur tschechischen Grenze". Radtourenbuch und Karte, 1:75.000, Verlag Esterbauer 2007, 11,90 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!