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Archiv-Artikel

Alte Streitfälle neu aufgerollt

Berufskrankheiten bei Lösungsmitteln werden teilweise neu überprüft. Reaktion auf geändertes amtliches Merkblatt. Interessenverband sieht wesentlich mehr Kranke

BERLIN taz ■ Betroffene von beruflichen Lösungsmittelkrankheiten können eine erneute Prüfung ihrer Fälle durch die zuständigen Berufsgenossenschaften (BG) beantragen. Der Hauptverband der Berufsgenossenschaften in Sankt Augustin bei Bonn kündigte dies am Montag in einer Mitteilung an. Die BG werden auch von sich aus aktiv, hieß es: „Deshalb werden wir alle abgelehnten Zweifelsfälle prüfen und bei Bedarf neu entscheiden.“

Im Detail handelt es sich um die als BK 1317 katalogisierte Berufskrankheit „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“. Diese Berufskrankheit soll Rente und Entschädigung regeln, wenn auf Grund von beruflichen Belastungen Schäden des Gehirns (Enzephalopathie) oder bestimmte Krankheitsbilder des Nervensystems (Polyneuropathie) festgestellt werden. Diese Krankheiten sind nach Aussagen von Experten weit verbreitet, werden aber in der Praxis oft nicht erkannt.

Zur BK 1317 hatte der wissenschaftliche Sachverständigenbeirat des zuständigen Bundesministeriums nach Einführung der Berufskrankheit im Jahr 1997 ein so genanntes Merkblatt verfasst. Getreu den Leitlinien dieses Merkblatts entscheiden häufig Gutachter und Gerichte, ob Betroffene eine Berufsunfähigkeitsrente erhalten oder nicht. Von dem Merkblatt hat der Sachverständigenbeirat Anfang des Jahres eine neue Fassung erstellt (taz vom 26. Januar). Die alte Fassung enthielt diverse Kriterien, die nicht Stand der Wissenschaft waren und die Diagnose der BK 1317 sehr erschwerten.

Der Hauptverband der Berufsgenossenschaften (HVBG) sieht durch die Neubewertungen allerdings keine Welle neuer Rentenfälle auf sich zukommen. Seit Einführung der BK 1317 im Jahre 1997 seien insgesamt 81 Fälle im Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften anerkannt, 1.754 Verdachtsfälle abgelehnt worden, so der HVBG: „Nicht alle abgelehnten Fälle müssen allerdings jetzt neu geprüft werden: Viele dieser Fälle wurden aus anderen Gründen abgelehnt (zum Beispiel keine Polyneuropathie oder Enzephalopathie, keine Lösemitteleinwirkung).“

Betroffenenverbände sehen die Zahl der potenziell Betroffenen wesentlich höher. Millionen Beschäftigte kommen in Deutschland mit organischen Lösungsmitteln in Kontakt, das bestätigt auch die Bundesregierung. Daraus folgt nach internationalen Erfahrungen, dass hierzulande tausende pro Jahr erkranken müssten – eine deutliche Diskrepanz zu den etwa zehn anerkannten Rentenfällen pro Jahr. Peter Röder von der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IkU) sagt: „Wir befürchten etwa 200.000 Altfälle in Deutschland.“ Unabhängig vom Merkblatt bleibt auch das Problem der Durchsetzung von Ansprüchen vor Gericht.

So hat die Bundesregierung noch immer nicht klar in den Sozialgesetzbüchern geregelt, wer die Experten in einem Verfahren auswählt. Bisher können die beklagten Berufsgenossenschaften von den Erkrankten vorgeschlagene Gutachter ablehnen, viele Gerichte folgen ihnen dabei. Vielen einschlägigen Gutachtern ist ein enger Kontakt zur Industrie nachgewiesen oder zumindest anhand von Indizien nachgesagt. Die Unternehmen zahlen die Beiträge zu den BG zu 100 Prozent. Wird die Krankheit hingegen nicht als Berufskrankheit anerkannt, sind die Krankenkassen zuständig. An diese zahlen die Firmen nur den halben Beitrag. Außerdem droht den Kranken eine viel geringere staatliche Rente.  REINER METZGER

www.bk1317.de, www.hvbg.de