■ Die UNO kann in Somalia keinen Frieden stiften: Alte Feinde, neue Feindbilder
Der Bürgerkrieg im südlichen Somalia ist noch nicht entschieden und deshalb noch nicht beendet – die Weigerung der beiden Milizenchefs von Mogadischu, Farah Aidid und Ali Mahdi, an der für den 20.Oktober geplanten Friedenskonferenz in Addis Abeba teilzunehmen, beweist es. Die amerikanischen Initiatoren der „Operation Neue Hoffnung“ ebenso wie die UNO agieren an der gesellschaftlichen Realität Somalias vorbei.
Anarchie, in des Wortes ursprünglicher Bedeutung der Abwesenheit von staatlicher Herrschaft, ist Teil dieser Realität. Von Chaos weit entfernt, hat die eben nicht staatlich verfaßte, in das Korsett einer kolonial verfügten Staatlichkeit gezwängte somalische Gesellschaft ihre eigene Ordnung. In der Auflösung des Staates wird diese Ordnung wieder sichtbar und erweist sich in weiten Teilen des Landes als funktionsfähig. Wo sie in Korruption, Pfründenwirtschaft und Repression – den Kennzeichen des gestürzten Barre-Regimes – und in Prozessen wie Landflucht, Verstädterung und der Verarmung von Viehzüchternomaden und Bauern zersetzt wurde – im Süden mehr als in Zentral- und Nordsomalia, in den Städten mehr als auf dem Land –, wurde Gewalt und die auf der Verfügung über Gewaltmittel basierende Macht bestimmend. Die Kriegsherren wie Aidid waren ein Produkt oder, wie Mohamed Said Hersi, genannt „Morgan“, einer der vielen Schwiegersöhne Barres, ein Teil des Regimes.
Mit anderen Worten: Sie repräsentieren nicht die Clans, aus denen sie stammen, sondern sie sind aus der Auflösung einer ehemals verbindlichen sozialen Ordnung hervorgegangen. Erfolg im Krieg verschaffte ihnen zwar Ansehen, die Brutalität des Bürgerkrieges und die rücksichtslose Selbstbereichung, die Barre seinen potentiellen Erben vorgemacht hat, widerspricht aber allen überlieferten Regeln und Normen.
Die somalische Gesellschaft setzt sich zusammen aus Verwandtschaftsverbänden. Zuordnungsprinzip ist die Abstammung in väterlicher Linie, wobei jeder gemeinsame Vorfahre Ausgangspunkt einer Solidargemeinschaft ist. Angefangen von der erweiterten Familie vergrößert sich die Gemeinschaft mit jeder zurückliegenden Generation bis zu den Clans (zehn und mehr Generationen) und den sechs großen Clanfamilien, die das gesamte somalische Volk (unabhängig von der Staatszugehörigkeit, also einschließlich der Somalis in Äthiopien, Kenia und Djibouti) umfassen. Welche Einheit für den einzelnen den Bezugsrahmen bildet, hängt von der Situation ab. Brüder bleiben im Streit unter sich, Cousins ziehen ihre Brüder mit hinein – je entfernter die Verwandtschaft zwischen Personen oder Gruppen, die im Konflikt miteinander stehen, desto größer die Einheit, die als Solidargemeinschaft dient.
Außer durch Verwandtschaft werden die Beziehungen der Clans und ihrer Untergliederungen durch Heirat zwischen Angehörigen verschiedener Segmente und durch Verträge geregelt. Ein zwischen den Ältesten, als den durch Erfahrung, Kenntnis der Traditionen und persönliches Ansehen qualifizierten Sprechern der beteiligten Clans oder Clansegmente ausgehandelter Vertrag legt kollektive Rechte und Pflichten in über Generationen verbindlicher Form fest. Die Ältesten sind es auch, die Konflikte zwischen verschiedenen Segmenten beilegen, indem sie den jeweils erlittenen Schaden ermitteln und die angemessene Entschädigung bestimmen; ist die Entschädigung geleistet, ist der Fall abgeschlossen. Die Rechtsgrundsätze des Vertrages und der Kompensation sind, neben der Solidarität herstellenden Verwandtschaft, die zentralen Institutionen der somalischen Gesellschaft.
Außerhalb des Clansystems stehen die nicht-somalischen Minderheiten, die als Bauern an den Flüssen Juba und Schebelle leben. Am Rand, da seit langem seßhaft und von der Landwirtschaft existierend, stehen die Clanfamilien Rahanweyn und Digil; für die in der Tradition der nomadischen Viehzucht lebenden übrigen vier Clanfamilien sind diese sozusagen Somalis „zweiter Klasse“. Der Süden ist heterogener als Zentral- und Nordsomalia, zudem war er politisches und wirtschaftliches Zentrum des Staates. Der Bürgerkrieg nach Barre wurde denn auch vor allem im Süden ausgetragen, in Mogadischu und zwischen Juba und Schebelle. Die nicht-somalischen Minderheiten sowie die Rahanweyn und Digil waren seine Hauptopfer.
Die bewaffneten Gruppen, von wem auch immer angeführt oder finanziert, sind nicht die Kräfte, die eine politische Ordnung aufbauen können. Die Gewaltspirale, die in Mogadischu anscheinend ungebrochen eskaliert, stärkt aber die Bedeutung der letzteren. Positiv wie negativ beziehen sich UNOSOM und die USA nur auf sie.
Das Clansystem mit seinem komplizierten Geflecht von Gruppenbeziehungen ist die einzige vorhandene Grundlage, auf der eine halbwegs stabile politische Struktur in Somalia aufgebaut werden kann. Wegen des Krieges sind aber fast alle Clans im Süden gespalten. So der Ogaden-Clan, der eigentlich zur Darod-Clanfamilie des gestürzten Präsidenten Siad Barre gehört, jedoch in den Widerstand gegen ihn trat: Ein Teil ist weiter mit Aidid verbündet, ein anderer Teil kehrte zum alten Bündnis mit den Marehan, dem Clan Siad Barres, innerhalb der Darod-Clanfamilie zurück. Gespalten sind auch die Hawiye, denen Aidid und sein Feind, der sogenannte „Interimspräsident“ Ali Mahdi, angehören.
Zudem hat die Nutzung von Clanloyalitäten als Mittel der Bereicherung und des Zugangs zu Privilegien – beispielsweise hohe und profitträchtige Ämter in der Staatsbürokratie – während des Barre-Regimes die Berufung auf verwandtschaftliche Solidarität suspekt gemacht. Die Folgen des Bürgerkrieges haben direkt oder indirekt einige Millionen Menschen betroffen, aber aktiv beteiligt waren weit weniger; Interesse an einer Neuauflage haben noch weniger – nur deshalb ist es nicht überall, wo UN- Truppen stationiert sind, zu Kämpfen gekommen. Mit jedem neuen Opfer von Bombardierungen, mit jedem neuen Opfer von Übergriffen, mit jedem neuen Insassen eines UN-Gefangenenlagers erstarken jedoch die Loyalitätspflichten der Clan-Angehörigen, verfestigt sich das gemeinsame Feindbild UNOSOM/USA.
UNOSOM und die USA haben sich in einen nicht zu gewinnenden Krieg hineinbegeben und dabei letztlich nichts anderes getan, als sich mit Aidid, Ali Mahdi, Morgan und den anderen Kriegsherren auf eine Stufe zu stellen. Sie haben sich als Bündnispartner des einen und Gegner des anderen in den suspendierten somalischen Bürgerkrieg eingemischt. Wenn sie sich nicht selbst aus der Logik der Gewalt, die immer nur neue Gewalt hervorbringt, herausziehen, werden die Truppen der Vereinten Nationen nur ein verändertes Kräfteverhältnis, veränderte Allianzmuster, alte Gräben, neue Wunden und zusätzliche Polarisierungen hinterlassen – aber keinen Frieden. Kathrin Eikenberg
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