: Alsterdorf: Gesundschrumpfer am Werk
■ Behinderten-Wohngruppen befürchten Ausbeutung statt Sanierung Von Silke Mertins
Die Arbeit steht ihnen bis Oberkante Unterlippe; die MitarbeiterInnen der Behinderten-Wohngruppen in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf fürchten dennoch, daß alles noch schlimmer kommen wird. Ab 1. Juli nämlich sollen sie zusätzlich zu ihrer Rund-um-die-Uhr-Betreuung auch ihre eigenen Finanzen verwalten.
Was das Alsterdorf-Management als dezentrale Selbstverwaltung anpreist, stößt in den Wohngruppen auf wenig bis keine Gegenliebe. Grund: Die für pädagogische Aufgaben eingestellten MitarbeiterInnen fühlen sich dem selbstbestimmten Geldausgeben nicht gewachsen. Eine zusätzliche Stelle fürs Finanzielle gibt's nicht.
„Wir sind keine Buchhalter und wollen es auch gar nicht sein“, sagt Mitarbeiter Martin Schmidt*. Nicht nur ein „Riesenverwaltungsaufwand“ käme auf sie zu. Im Rahmen der Umstrukturierung würden sogar noch Stellen für den „Förderbereich“, mit dem Behinderte künftig gezielt und individuell betreut werden sollen, abgezogen.
„Man kann nicht einfach immer nach mehr Geld schreien“, vertritt der Personalrats-Chef und Sanierungsbeauftragte Wolfgang Kraft natürlich einen ganz anderen Standpunkt. Die „enorme Anstrengung“, die Stiftung Alsterdorf mittels Umstrukturierung aus den roten Zahlen zu holen, würde garantieren, „daß mehr Hilfe bei den Behinderten ankommt als je zuvor“. Nur hätten einige Wohngruppen das „noch nicht verstanden“.
In der Tat, so der aus der freien Wirtschaft stammende Sanierer Kraft, würde der „Förderbereich“ auf Kosten der Wohngruppen ausgebaut. Durch die gezielten Maßnahmen falle aber auch weniger Betreuung in den Wohngruppen an – ergo weniger Arbeit. „Die Wohngruppen haben noch nie so viele Möglichkeiten gehabt wie jetzt“, so Kraft. Die eigenverantwortliche Haushaltsführung – „Budgetierung“ – sieht der Alsterdorfer Gesundschrumpfer vor allem als Erleichterung. Denn nicht mehr jeder Putzlappen muß dann genehmigt werden.
Überhaupt kann Sanierer Kraft das Wehgeschrei nicht so recht nachvollziehen. Die 137 isolierten Wohngruppen wären doch „eine Mangelstruktur“ und „nicht mehr verantwortbar“. Personalressourcen sollten Wohngruppen-übergreifend geplant und genutzt werden. Wenn die meisten Behinderten zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Beispiel in Förderungsmaßnahmen sind, müßte nicht jede Wohngruppe MitarbeiterInnen für die Betreuung einzelner abstellen. Die verbliebenen Behinderten mehrerer Gruppen könnten in einer gemeinsamen Schicht versorgt werden.
Die Alsterdorfer MitarbeiterInnen wollen sich das Sparprogramm jedoch nicht schönreden lassen. Viele Behinderte könnten nur noch „über Krankheit auf sich aufmerksam machen“, so Stefan Kranz*. Der sogenannte Förderbereich sei außerdem „überhaupt noch nicht näher beschrieben“. Die schlechte Informationspolitik von seiten der Leitung und die Streichung des Heimbeirats führen „zu einer merkwürdigen Stimmung und Verunsicherung in den Gruppen“.
Daß es zur Zeit an vielem hapert, gibt Sanierer Kraft auch zu. Man sei halt noch in der Erprobungsphase. „Aber dieses Konzept ist die einzige Chance für die Stiftung, finanziell übern Berg zu kommen.“
*Name geändert
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