: Als sie noch jung waren
Leben und Schreiben am Bodensee und in Bargfeld: Martin Walsers zweiter Tagebuch-Band 1963–1973 und Arno Schmidts „Briefwechsel mit Kollegen“ liefern Einblicke in die künstlerische Produktion von bundesdeutschen Schriftstellern nach 1945
VON ALEXANDER CAMMANN
Unter den Fenstern im Erker bogen sich in den Nischen die selbst gezimmerten Taschenbuchregale. Stundenlang lag der Junge davor auf dem Boden, den Kopf schräg zur Seite gebogen, und betrachtete, was dort aufgereiht stand. Es war eine endlos wiederholbare Übung: suchen, einprägen, bei irgendeinem Namen oder Titel verharren, herausziehen, anlesen – und wieder einsortieren, möglichst ordentlich alphabetisch. Merkwürdigerweise gab es dabei jedesmal Neues zu entdecken, auch wenn die Anzahl der Bücher selten wuchs.
Die Szene spielt in Ostberlin, Prenzlauer Berg, Mitte der Achtzigerjahre. Die in modischer dunkelbrauner Farbe gebeizten Regalbretter waren gesamtdeutsch bestückt, dank der Schmuggeltechniken der Großmutter; sie durfte als Rentnerin in den Westen. Ost und West waren hier auf dem Regal gleichermaßen zerlesen: Reclam/Leipzig vermengte sich mit dtv und rororo; der Shere Hite Report stand neben Hoimar von Ditfurths populären Sachbüchern, Christa Wolf neben Heinrich Böll und Henry Miller.
Zwei Namen tauchten in diesem Regal ebenfalls auf, mit denen aber der Junge beim Blättern nicht viel anfangen konnte: Arno Schmidt und Martin Walser. Das waren komisch-rätselhafte Buchtitel, „Halbzeit“ etwa, „Brand’s Haide“ oder „Kaff auch Mare Crisium“. Selbst ein Karl-May-Buch hätte der eine geschrieben, so lockte der Vater, ein bekennender Arno-Schmidt-Fan. Doch jene Karl-May-Studie „Sitara und der Weg dorthin“ (1963) war dem soeben dem Winnetou-Lesealter entwachsenen Jungen eindeutig zu kompliziert.
Mehr als zwanzig Jahre danach sind jetzt mit Martin Walsers zweitem Tagebuch-Band, der die Jahre 1963 bis 1973 umfasst, sowie Arno Schmidts „Briefwechsel mit Kollegen“ zwei Bücher erschienen, die jene damals wie heute ferne Zeit der frühen Bundesrepublik erstaunlich nahe an unsere Gegenwart heranrücken. Bodensee und Bargfeld: Beide höchst unterschiedliche Schriftsteller wirkten aus der Provinz und hatten übrigens zeitweise engen Kontakt. Bei der Lektüre der Bände bekommt man zudem einen intimen Einblick in die komplizierte Welt des Schreibens und schaut auf das prekäre Dasein des Kreativen, bei dem Erfolg und Scheitern ja so dicht und unberechenbar nebeneinander liegen.
Walsers Tagebuch ist, wie schon der 2005 erschienene erste Band, vor allem ein Arbeitsbuch, kein autobiografisches Protokoll. Es mischen sich Skizzen, Gedichte, Prosaentwürfe, Reflexionen und Beobachtungen: Lesend schaut man zu, wie Walser oft alltägliche Eindrücke aufnimmt, verdichtet und in Material verwandelt. Komische Szenen sind darunter: etwa ein grotesker Bordellbesuch in St. Pauli 1963 mit Verleger Ledig-Rowohlt, der für alle zahlt und am Ende ohnmächtig von Walser ins Taxi getragen werden muss. Es gibt ausführliche Betrachtungen über den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964, dem er beiwohnt – was ihn nicht davon abhält, sich im Zug dorthin mit einer Südamerikanerin über sexuelle Praktiken zu unterhalten. In solchen zunächst geschmacklos wirkenden Irritationen liegt jedoch der eigentliche Gewinn: Walser bietet eine Schule in genauer Wahrnehmung all dessen, was um einen herum ist. Von seinem späteren, lautstark geäußerten Bedürfnis, auch mal wegzuschauen, ist hier noch nichts zu spüren. Politisch wandert Walser in diesem Jahrzehnt nach links; zahllose Vietnam-Resolutionen und Schriftstellerverbandstagungen kommen vor. „Ich bin eine Romanfigur“, meint der Autor an einer Stelle: ausgiebig kann man mitverfolgen, wie er sein Familienleben, vor allem seine Töchter in literarisches Material zu verwandeln versucht. Während Walser Privates zu Lebzeiten zugänglich macht, sind die Briefe des 1979 verstorbenen Arno Schmidt eine Flaschenpost aus den Fünfzigerjahren.
Die von Jan Philipp Reemtsma seit vielen Jahren geförderte Arno-Schmidt-Stiftung hat eine äußerst edle, hervorragend kommentierte Edition ermöglicht, die Fachleute und Fans gleichermaßen beglücken dürfte. Schmidt, der große Randständige in der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur, ist in den Fünfzigern, so zeigt die Korrespondenz mit Heinrich Böll, Alfred Döblin und vielen anderen, erfolgreich um Resonanz bemüht. „Sie sind die Sensation, die Mischung aus Wucht und Feinziselierung, auf die ich seit Jahren warte“, schreibt ihm begeistert der 27-jährige Peter Rühmkorf. Ausgiebig korrespondiert er mit dem ihn verehrenden jungen Rundfunkredakteur Martin Walser, für den Schmidt gern Beiträge liefert und der ihm durch ein gelungenes Porträt zur „Quelle in der Wüste“ wird: „Sie sind der Erste (Einzige), der überhaupt erkannt und durch Beispiele bewiesen hat, was und wie viel ich vermag!“ 1956 warnt er Walser dennoch: „2 Bücher weiter in dieser Richtung, und Sie könnten beim Kunstgewerbe landen.“ Herrlich frech kanzelt Schmidt den Nobelpreisträger Hermann Hesse persönlich ab: „Ein begabter Dichter: reich und faltig … die Stimme eines Sängers, die zwar keinen großen Umfang hat und nur wenige Töne enthält, aber diese gut und vom schönsten Wohlklange.“
1958 zieht Schmidt mit seiner Frau ins einsame Bargfeld, wo er sich von der Öffentlichkeit zurückzieht, konzentriert arbeiten kann und allmählich zum modernen Klassiker wird. „Dieser Herr Arno Schmidt ist eine Potenz, keine ganz angenehme, aber entschieden originell u. kühn“, so Gottfried Benn 1955. Schmidts Korrespondenz bestätigt dieses Urteil noch einmal. Und sie macht Lust, die vergilbten Taschenbücher von einst wieder einmal hervorzuholen.
Arno Schmidt: „Briefwechsel mit Kollegen“. Hg. von Gregor Strick. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 468 Seiten, 44,50 €ĽMartin Walser: „Leben und Schreiben. Tagebücher 1963–1973“. Rowohlt, Reinbek 2007, 719 Seiten, 24,90 €