■ Als beneidenswert fit erwiesen sich gestern die VeteranInnen des Großen Vaterländischen Krieges bei der Parade zum Siegestag. Sie waren allerdings auch streng ausgewählt. Viele von ihnen wären...: Die letzte Parade der Roten Armee
Als beneidenswert fit erwiesen sich gestern die VeteranInnen des Großen Vaterländischen Krieges bei der Parade zum Siegestag. Sie waren allerdings auch streng ausgewählt. Viele von ihnen wären am liebsten in die Sowjetunion zurückmarschiert
Die letzte Parade der Roten Armee
Was die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges aus der ganzen UdSSR gestern früh ab neun Uhr im Herzen Moskaus darboten, war die perfekte Imitation einer Sowjetzeit-Parade vor dem Kreml. Funkelnd vor Orden und in neuen Anzügen und Kostümen marschierten – teils im Stechschritt – etwa 4.000 alte Damen und Herren an den Präsidenten Jelzin und Clinton, Großbritanniens John Major und etwa 50 anderen Regierungsoberhäuptern vorbei und bewiesen beneidenswerte Fitneß. Allerdings war dem nicht nur wochenlanger freiwiliger VeteranInnendrill vorausgegangen, sondern ganz am Anfang hatte auch ein nicht ganz so freiwilliges Ausleseverfahren stattgefunden.
Sorgfältig hatte man die neurussischen Fahnen vom Kreml entfernt. Den Platz umsäumten riesige Propagandaplakate aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges und die gewaltige Nachbildung des „Sieges-Ordens“ mit voller UdSSR-Emblematik. Diskret verhüllt von Grünzeug war allerdings der Namenszug Lenins auf dem Mausoleum. Dafür begrüßte der die Parade abnehmende einstige Oberkommandeur des Warschauer Paktes, Generalmajor Kulikow, ein Regiment nach dem anderen mit der Floskel: „Genossen, ich gratuliere euch zur Feier des Sieges des Sowjetvolkes in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges.“
Aufgelockert wurden die Blöcke der VeteranInnen durch Trommler- und Bannerträger-Abteilungen junger Kursanten. Hinzu kamen je eine Abteilung der Grenztruppen und der Truppen des Innenministeriums. Unter den jungen Soldaten waren auch schwarzbemützte Marine-Infanteristen von der Eismeerflotte und Teile des 45. „Speznas“-Regimentes, einer Antiterror-Truppe des Innenministeriums, deren Motto lautet: „Der Stärkste siegt.“ Die letzten beiden Gruppierungen weckten vor allem bei den amerikanischen Gästen Bedenken, da sie auch Soldaten für die Kämpfe in Tschetschenien gestellt haben. Man hatte den Amerikanern versichert, daß hier niemand vorbeimarschieren werde, der dort im Einsatz war. Atemlose Stille verbreitete sich als ein Regiment blutjunger Kursanten in Original- Kampfuniformen Originalmaschinengewehre aus dem Zweiten Weltkrieg präsentierte und auf gespenstische Weise die Jugend der vor ihnen gehenden Alten nachspielte.
Nicht zuletzt frappierte das leibhaftige Wiederauftauchen längst vergessener HeldInnen. Da wurde der Block der zweiten Belorussischen Front von einem General angeführt, der dem Fernsehkommentar zufolge als lebendes Vorbild für Scholochows Kurzroman „Schicksal eines Menschen“ gedient hatte. Und die Rekord-Fliegerin und spätere Poetin Natalj Fjodorowna Krawzowa führte eine VeteranInnen-Abteilung der ukrainischen Front. Und nun noch ein Beispiel für die nationale Zusammensetzung der bejahrten Parade-TeilnehmerInnen: im Block der Ersten Karelischen Front schritten 75 VeteranInnen aus der Ukraine, je dreißig aus Moldawien, Georgien und Usbekistan und neun aus verschiedenen baltischen Staaten.
Daß der Rote Platz diesmal strikter abgesperrt war, als je zuvor und daß auch die Militärparade auf der „Poklonnaja Gora“ nur 5.000 ihresgleichen zugelassen worden waren, erbitterte viele der Ex- KriegsteilnehmerInnen, von denen es immerhin in Moskau noch 24.000 geben soll. „Wir werden nirgendwo mit dabeisein. Mich haben allein heute vier ehemalige Kameraden angerufen, und alle sind beleidigt“, erzählte mir die 73jährige Marija Alexejewna, einst Ärztin an der Leningrader Front und im Ural. Wir trafen sie am Tage der Feier im Gorki-Vergnügungspark, an dem Platz, wo die VeteranInnen seit Jahren jeden 9. Mai ihre geduldigsten Zuhörer fanden: ihresgleichen. Marija Alexejewna hat sich mit ihrem Freund und Kampfgenossen Vilalij Jewgenjewitsch aus Riga, schadlos gehalten und von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, kostenlos Karussell zu fahren: „Wir sind mit dem Boot über eine Wasser-Berg-und-Tal-Bahn namens Niagara-Fälle gerutscht und haben schweigend überstanden, was die Jungen nur mit Kreischen absolvieren.“
Auch Geschenke für Marija Alexejewna
Die lebenslustige Frau war schon auf drei Feiern in ihrer Kleinstadt vor Moskau: „Und morgen wird bei uns wieder ein Meeting sein und dann ein Bankett – mit Tanz.“ Auch Geschenke hat Marija Alexejewna bekommen, 350.000 Rubel, wie alle Moskauer VeteranInnen und ein schickes Umschlagtuch. Wie alle KriegsteilnehmerInnen gegenwärtig etwa 130.000 Rubel (zirka 35 Mark). Vitalij Jewgenjewitsch bekommt in Riga keinerlei Extrazuwendungen außer einer winzigen Pension vom russischen Verteidigungsministerium. „Ein Veteran wie ich gilt dort als Feind Nummer eins des lettischen Staates. ,Okkupanten‘ nennen sie uns dort, obwohl das Blödsinn ist, denn ein Okkupant errichtet ein Militärregime, unsere Soldaten aber haben dort alles wiederaufgebaut, technische Geräte geliefert und sogar den Bauern beim Einbringen der Ernte mitgeholfen“, erklärt er uns, und er fährt fort: „Auf jeden Fall werde ich dort noch fortziehen.“
Ausnahmslos alle VeteranInnen, die wir trafen, sehnen sich nach der Sowjetunion zurück. Die wenigen persönlichen Freundschaften, die sie sich über die Jahre bewahren konnten, werden ihnen durch die neuen Staatsgrenzen vergällt. Vitalij Jewgenjewitsch hat in dieser Hinsicht einen bestimmten Verdacht, den er durch die Tatsache erhärtet sieht, daß Präsident Clinton nicht an der Panzerparade an der Poklonnaja Gora teilnimmt: „Das geschieht im Interesse eines engen Personenkreises und auf Bestellung des Westens. Schließlich wurde auch die Sowjetunion nicht ohne Hilfe Amerikas, Englands und Frankreichs zugrunde gerichtet.“ Barbara Kerneck
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