Als Dorfschreiberin im Schwarzwald: Sällemool in Schollach
Mit dem Arm im Hinterteil einer kalbenden Kuh, Schnaps im Bierhäusle, und was ist bloß ein Klassenfeind? Die Erlebnisse einer ostdeutschen Dorfschreiberin im Schwarzwald
Eine der tollen Sachen am wiedervereinigten Deutschland ist es, dass eine Reise von einem Bundesland in ein anderes reicht, um sich wie im Ausland zu fühlen. Die Sprache, die Landschaft, das Essen, die Mentalität - die Unterschiede sind bisweilen so groß, dass man sich fasziniert die Augen reibt.
Seit Anfang Juni bin ich Dorfschreiberin in Schollach, einem 250-Seelen-Dorf im Hochschwarzwald, das zur Gemeinde Eisenbach im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald in Baden-Württemberg gehört und sich rühmt, den ersten patentierten Skilift der Welt zu haben, errichtet 1908. Bis Ende August ist mein Zuhause das Leibgedinghaus auf dem Beierleshof, gut 1.000 Meter über dem Meeresspiegel. Zu dem Hof aus dem Jahr 1599 gehören viele Hektar Wald und Wiesen, 50 Milchkühe, zwei Bullen, zwei Schweine, drei Hunde, vier Katzen und eine Hofkapelle. Bewirtschaftet wird er von Klaus Schuler, 45, Bauer Nr. 16 in der Hofgeschichte, und seiner Frau. Dazu gibt es noch drei Kinder und Maria Schuler, 77.
Für das kommende Jahr sucht der Verein Kreatives Eisenbach einen deutschtürkischen Autor oder eine deutschtürkische Autorin. Der Verein hofft auf eine literarische Auseinandersetzung mit den Themen "Fremdsein, Anderssein, Abgrenzung und Anpassung" und wünscht sich "einen lebendigen Austausch zwischen dem Autor und der deutschen wie auch der türkischen Bevölkerung in Eisenbach". Die Bewerbungsfrist läuft bis Ende Oktober.
Der Weg von Berlin nach Schollach war kein leichter. Im Herbst 2007 erfuhr ich über einen Newsletter von dem gemeinnützigen Förderverein kreatives Eisenbach e. V., der ein Stipendium für Dorfschreiber vergibt. Ziel des Vereins ist es, "Talente, Begabungen, Ideen der Eisenbacher Bevölkerung zu entdecken und zu wecken" und Autorinnen und Autoren zu fördern. Weil ich mich auf Talentsuche begeben und gefördert werden wollte, bewarb ich mich um das Stipendium in der Nähe vom Titisee, dessen Name für mich ähnlich exotisch klang wie der des Titicacasees in Südamerika.
Nachdem ich der Badischen Zeitung entnommen hatte, dass man von den ersten Dorfschreibern enttäuscht war - sie ließen sich zu selten blicken -, verfasste ich eine Bewerbung voller Aktivitäten. Kurz vor Weihnachten 2007 erhielt ich eine Absage. Ich war konsterniert und schrieb eine Mail an den Verein. Darin kündigte ich an, mich erneut zu bewerben. Wenige Tage später erhielt ich einen Anruf. Der Verein, der in meiner Biografie gelesen hatte, dass ich in der DDR aufgewachsen bin, war neugierig geworden - und ängstlich. "Waren Sie in der Partei? Haben Sie für die Staatssicherheit gearbeitet?"
Diese beiden Fragen, 18 Jahre nach dem Mauerfall bei einem Telefonat aus dem fernen Süden gestellt, steigerten mein Interesse ins Grenzenlose. Nachdem ich versichert hatte, weder bei der Partei noch bei der Stasi mitgemischt zu haben, wurde ich im Sommer 2008 zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Während ich den Ostler zum Anfassen gab, erfreute ich mich an zarten Schweinebäckchen. Nach dem Espresso bekam ich den ersehnten Zuschlag. Ein Jahr später wurde ich die erste Dorfschreiberin aus dem Osten.
Für viele Einheimische, für die das 45 Kilometer entfernte Freiburg schon weit weg ist, war der Osten "sällemool" (damals) vor dem Mauerfall erst recht Welten entfernt. Daran hat sich nicht rasend viel geändert. Bei Lesungen aus meinem Ost-West-Jugendroman "Der Klassenfeind und ich" an hiesigen Schulen bekomme ich auf die Frage, was ein Klassenfeind ist, oft die gleiche Antwort: "Unser Klassenlehrer!" Das Leben hier spielt sich zwischen Stall, Hof, freiwilliger Feuerwehr, Musik- und Gesangsverein, Holzschlagen, dem Herrichten von Ferienwohnungen, Traktorenoldtimertreffen, Leiterwagenrennen, Segnungen von Pferden und Kräutergebinden ab. Wichtiger als das in der Hauptstadt geplante Einheitsdenkmal ist das Glöggli auf der Hofkapelle. Die DDR läuft den Einheimischen zwar in Form von Nachbarn, Kellnern, Anwälten oder Judotrainern aus dem Osten über den Weg, die es hierher verschlagen hat. Aber die Schwarzwälder sind e weng verschlossen und froge nit vil.
Bevor die Schwarzwälder wirkliches Interesse an Fremden zeigen, so mein Eindruck, muss man sich bewähren. Also habe ich die Kühe gemolken und habe mir die Kuhschwänze um die Ohren klatschen lassen, bin ich mit Bauer Klaus auf dem Hochsitz auf Tuchfühlung gegangen und habe ihm geholfen, den geschossenen Rehbock zum Auto zu tragen. Von seiner Mutter Maria habe ich mir zeigen lassen, wie man Honig ohne Bienen macht, den sogenannten Waldhonig, aus jungen Tannenspitzen. Als die Geburt eines Kälbchens anstand, forderte mich Bauer Klaus grinsend auf, den Arm hinten bei der Kuh reinzustecken. In null Komma nix war er im Innern des Tiers verschwunden. Nachdem ich den Schweinestall ausgemistet hatte, hatte ich mir Anerkennung erworben und wurde zum Vespern mit der Familie vor dem Kuhstall eingeladen.
Dabei hat der alemannische Dialekt so wunderschöne Wörter wie "wunderfitzig", neugierig. Ist man wunderfitzig im Hochschwarzwald, wird man belohnt. Mit Originalen wie Guscht, dem 75-jährigen Wirt vom Bierhäusle, einer alten Gastwirtschaft mit ausgestopftem Auerhahn am Tresen, ausgestopftem Wildschweinkopf über dem Klavier, guten Vesperplatten und Schnäpsen für 80 Cent. Im Bierhäusle trifft sich dienstags die Frauengymnastikgruppe nach dem Sport, mittwochs probt der Männergesangsverein "Harmonie", donnerstags wird Cego gespielt, ein alemannisches Kartenspiel. Bevor ich auch nur annähernd die Regeln verstanden hatte, durfte ich den Punktestand notieren. "Bischd ja die Dorfschreiberin", hieß es am Stammtisch.
Jetzt, wo selbst Bauer Klaus und die Stammbrüder im Bierhäusle wissen wollen, wie mein Roman vorangeht, jetzt, wo ich bei der Fahrt durchs Schollachtal nach rechts und links am Grüßen bin, jetzt, wo nach einer Schul-Schreibwerkstatt "Geschichten aus dem schwarzen Wald" von Zweit- und Drittklässlern als Buch erschienen sind, muss ich zurück nach Berlin.
Ich werde den Schwarzwald und den Beierleshof vermissen, die himmlische Ruhe, die nicht immer verständliche Sprache, die Maultaschen und Rinderzungen im Gasthof Engel auf dem Hochberg. Wenn mich die Sehnsucht überkommt, werde ich mich mit einem ebenfalls lieb gewonnenen Satz trösten: Mach it so e Gschiss. Und ich werde mit einer banalen wie beruhigenden Erkenntnis im Gepäck abreisen: Gut Ding will Weile haben.
Nachdem mein Vater im Bierhäusle an einer Skatrunde mit französischem Blatt teilgenommen hatte, schickte er zum Dank ein deutsches Blatt aus der Skatstadt Altenburg. Der Wirt vom Bierhäusle betrachtete die Briefmarken auf dem Umschlag aus Sachsen wieder und wieder, bis er verwundert und anerkennend sagte: "Die hen ja die glich Briefmarke wäe mir."
Der Bürgermeister von Eisenbach, der bei meiner Begrüßung keine Ahnung hatte, wie viele zugezogene Ostler es in seiner Gemeinde gibt, verewigte sich bei meiner Verabschiedung mit einer Widmung in einem Buch über Schwarzwalddächer. Voran stellte er ein Zitat aus dem Buch: "Man muss den Schwarzwald mit den Augen sehen und im Herzen fühlen. Der Schwarzwald ist die Wiedererweckung eines Gefühls. Das ist sein Geheimnis." Dann wurde er persönlich: "Frau Bollwahn, Sie haben während Ihres dreimonatigen Stipendiums als Dorfschreiberin genau hingeschaut mit Ihren Augen - und erspürt mit Ihrem Herzen. Auch Sie waren sicher manchmal ergriffen vom Schwarzwald - der Natur, den Gebäuden, vor allem aber auch den Menschen. Auch Sie haben uns gerührt. Ihre Sichtweise, Ihre Art, Dinge aus einem neuen, einem für uns ungewohnten Blickwinkel zu betrachten - und sprachlich zu kommentieren -, waren für uns eine sehr große Freude."
Mitnehmen nach Berlin werde ich auch das Geweih des Rehbocks, den Klaus Schuler in meinem Beisein erlegt hat. Und den Gutschein von Maria Schuler: eine Woche kostenloses Wohnen im Leibgedinghaus! Das Kuhkalb, dem ich auf die Welt geholfen habe, wurde auf den Namen Barbara getauft. Familie Schuler wird es nicht verkaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid