piwik no script img

Alltag von AnalphabetenWenn das X ein U zu sein scheint

Schätzungen zufolge gibt es vier Millionen Analphabeten in Deutschland. Oft haben sie bestimmte Strategien entwickelt, um auch ohne Buchstaben den Alltag zu bewältigen.

Das ABC – für vier Millionen Deutsche eine echte Hürde im Alltag. Bild: dpa

Wenn Maike Tjaden sich den Weg erklären lässt, will sie keine Straßennamen hören. Hinter dem großen roten Haus, oder: nach dem Baum gleich links – solche Beschreibungen helfen ihr weiter. Nicht, weil ihre Orientierung schlecht ist. Sondern weil sie die Straßenschilder nur mühsam entziffern kann. Die 26-Jährige kennt die Buchstaben, aber zusammengesetzt, als Wort, ergeben sie erst einmal keinen Sinn. Bis vor kurzem war Maike Analphabetin.

Schon in der Grundschule zeichnet sich ab, dass Maike langsamer lernt als andere. Nach dem Unterricht setzt sie sich mit der Mutter an den Küchentisch, um die Hausaufgaben zu machen. Meistens sitzt sie abends immer noch vor den Blättern. "Die ist ja dumm wie ein Toastbrot", lachen die Kinder aus der Nachbarschaft und rufen ihr nach: "Bist du etwa behindert?"

Irgendwann, erzählt Maike, ist der Lehrer so überfordert, dass er sie in die Ecke stellt. Schließlich wird sie getestet und auf die Sonderschule, wie die Schulen für Lernhilfe damals noch heißen, geschickt. "Ein Segen für mich, dass ich auf diese Schule gekommen bin", sagt Maike heute. Die Klassen sind kleiner, nur zehn, elf Kinder sitzen zusammen in einem Raum.

Der Analphabetismus

Das Problem: Die Unfähigkeit, zu schreiben und zu lesen, ist schwer definierbar, da sie in den unterschiedlichsten Ausmaßen auftritt. Eine Form ist der "funktionale Analphabetismus". Betroffene beherrschen das Alphabet, zusammengesetzte Buchstaben aber ergeben keinen Sinn für sie. Vier Millionen Menschen in Deutschland können weder lesen noch schreiben, die OECD geht sogar von sechs Millionen aus. ***

Die Forschung: Drei Hochschulinstitute und vier Bildungsunternehmen sollen, staatlich gefördert, bis Ende 2010 herausfinden, welche Strategien am effektivsten sind, um Analphabetismus einzugrenzen und Betroffene in Unternehmen einzusetzen.

Einige von ihnen haben dasselbe Problem wie Maike: Die Buchstaben wollen einfach keinen Sinn ergeben. Die Lehrer haben mehr Zeit für die Schüler, geben sich mehr Mühe - "aber das hat alles nichts geholfen", sagt Maike. Mehr als die Basics habe sie nicht beherrscht. Wenn sie etwas schriftlich bearbeiten muss und endlich das Blatt abgibt, bekommt sie oft zu hören: "Maike, was soll denn das heißen?" Letztendlich darf sie alle Prüfungen mündlich ablegen.

Mit der Zeit entwickelt Maike Strategien, ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche zu verstecken. "Man will das ja nicht allen gleich auf die Nase binden", sagt sie. Manchmal kommt es vor, dass sie im Supermarkt ratlos mit einem Einkaufszettel in der Hand vor den Regalen steht. Dann wendet sie sich an die Verkäufer: "Entschuldigung, ich habe meine Brille vergessen – können Sie mir das vorlesen?" oder "Ich kann die Handschrift meines Vaters nicht lesen". Meistens lässt sie aber den Zettel ganz zu Hause. Was andere in einem Notizblock festhalten, das speichert Maike in ihrem Gedächtnis ab.

Vier Millionen Menschen in Deutschland können nach Schätzungen des Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung nicht lesen und schreiben, allein in Berlin und Brandenburg sind es etwa 335.000. Vor dreißig Jahren noch ging man davon aus, dass es hierzulande gar keine Analphabeten gebe – ist Deutschland doch ein Land mit Schulpflicht. "Und plötzlich haben wir ein Riesenproblem", sagt Doris Habermann, Geschäftsleiterin der Kombi Consult GmbH. Die Firma arbeitet an einem Forschungsprojekt mit, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird: Alphabetisierung – Beratung – Chancen, kurz ABC-Projekt.

Herauszufinden, wie man Analphabeten erkennt und diese am besten in den Arbeitsmarkt integriert, ist das ehrgeizige Ziel der drei Bildungsunternehmen und vier Hochschulinstitute, die an dem Projekt teilnehmen. 34 Millionen Euro ist das dem BMBF wert. Besonders schwierig ist es, an die Betroffenen überhaupt erst einmal heranzukommen. Wie denn auch: Flyer und Printwerbung können sie ja nicht lesen.

"Jede Menge Analphabeten arbeiten unentdeckt in Betrieben", sagt Habermann. Sie erzählt von einem Mann, der 40 Jahre lang in einem Unternehmen arbeitete, zuletzt als leitender Angestellter. Dass er weder lesen noch schreiben konnte, wissen seine Mitarbeiter bis heute nicht. Vor kurzem ist er in Rente gegangen. In seiner Freizeit drückt er jetzt die Schulbank und besucht einen Alphabetisierungskurs.

Von sich aus, erzählt Habermann, suchen nur wenige Hilfe. Sie fühlen sich minderwertig, wollen ihren vermeintlichen Makel verstecken. Menschen mit Migrationshintergrund sind oft noch motivierter, lesen und schreiben zu lernen, um in Deutschland einen Job zu bekommen. Und so kommt es, dass von allen 80 Teilnehmern der Alphabetisierungskurse, die Kombi Consult im Zuge der Forschung durchführt, nur eine einzige Deutsche ist.

In ersten Stock eines Berliner Hinterhauses, versteckt zwischen Glücksspiel und Autowerkstatt, steht in großen Buchstaben das Wort "Tageszeitung" an der Tafel. Heute wird das Thema Medien besprochen. Am schwierigsten ist es, im Schriftlichen Laute und Buchstaben zu unterscheiden. "M" wird eben "m" geschrieben und nicht "em". Zudem wird es mit dem Älterwerden immer schwieriger, das Alphabet auch zusammengesetzt, in den Wörtern, zu erkennen. Erwachsene sind nicht mehr so aufnahmefähig, lernen langsamer.

Wenn sich die sieben Teilnehmer, zwischen 25 und 50 Jahre alt, auf ihre Arbeitsblätter konzentrieren, ist es so still in dem Raum, dass man den Sekundenzeiger der Uhr ticken hört. I wie Igel oder E wie Esel? Oder doch IE? "Jetzt macht mal Pause!", sagt die Dozentin schließlich, ein paar Teilnehmer stehen auf und gönnen sich eine Zigarette im Hof. Eine Frau bleibt sitzen, tief über das Blatt gebeugt, und malt sorgfältig Buchstaben auf das Papier. Sie schreibt so lange, bis die Lehrerin ihr halb streng, halb lachend das Blatt aus der Hand nimmt: "Sie müssen sich auch ein bisschen ausruhen!"

Endlich eine Zeitung lesen zu können, das ist das große Ziel von Frau F. aus der Türkei. Zu wissen, was in der Welt so geschieht. Sie will lieber anonym bleiben; dass sie kaum lesen und schreiben kann, ist ihr peinlich. Seit dreißig Jahren wohnt sie in Deutschland und spricht gut Deutsch. Ihre Eltern haben sie nie in die Schule geschickt, lieber sollte sie zu Hause mithelfen und arbeiten.

Die Gründe für Analphabetismus sind höchst unterschiedlich und oft schwer zu diagnostizieren. Manchmal rührt er von physischen Störungen, ist Folge einer Lernbehinderung, manchmal ist es die Psyche, die das Lesen und Schreiben unmöglich macht, wie zum Beispiel bei Schulphobien. Analphabetismus ist auch ein strukturelles Problem: Viele Langzeitarbeitslose, die über Jahre hinweg weder lesen noch schreiben müssen, Infos aus Radio und Fernsehen holen, vergessen das Erlernte schlichtweg.

Auch Maike Tjaden weiß nicht genau, wieso das mit den Buchstaben so schwierig für sie ist. Früher lief ihre Mutter mit ihr von einem Arzt zum nächsten, eine Ergotherapie brachte nichts. Schließlich kam Maike an die Volkshochschule, wo sie einen speziellen Alphabetisierungskurs besuchte. Täglich lernt Maike noch dazu: Wenn sie im Internet surft, zum Beispiel. Damit hat sich überhaupt eine ganz neue Welt eröffnet. Wenn sie früher nach ihrer E-Mail-Adresse gefragt wurde, war ihre Standardantwort: "Das ganze moderne Zeugs, das interessiert mich nicht."

Ihr Tutor aus der Volkshochschule hat sie dazu ermuntert, auch selbst zu schreiben. Kleinere Geschichten, an denen man noch herumfeilt und mit anderen weiterspinnt, das macht ihr Spaß. So viel Spaß, dass sie sogar an mehreren Schreibwettbewerben teilgenommen hat. Die Geschichten wurden gesammelt und veröffentlicht; an drei Büchern hat sie inzwischen mitgeschrieben.

Ihrem Freund hat Maike aber lieber gleich gesagt, dass sie bis vor kurzem noch kaum lesen und schreiben konnte. Sie lacht: "Weils per SMS dann doch auffällt."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!