Alltag im syrischen Rebellenkrankenhauss: Tausend Operationen in 18 Monaten
Als Arzt war Bashar Al Tammawi im Untergrund tätig. Man setzte seine Familie unter Druck, seither ist er auf der Flucht. Jetzt will er wieder in Deutschland arbeiten.
BERLIN taz | Er trägt Flip-Flops, die Hosenbeine seines OP-Anzugs hat er hochgekrempelt, denn der Boden im sonst sauber wirkenden Operationssaal ist blutverschmiert. Manchmal gibt es Strom, aber manchmal auch nicht, und dann hält einer seiner Kollegen eine generatorenbetriebene Lampe über die offene Wunde.
Eineinhalb Jahre lang operiert Bashar Al Tammawi in Deir ez-Zor, drei Monate und fünfzehn Tage davon ist er der einzige Chirurg im kleinen Team. Mehr als tausend Operationen führt er in dieser Zeit durch. Das Al Nour Field Hospital liegt nur 500 Meter von der Front entfernt.
Al Tammawis Heimatstadt befindet sich im äußersten Osten Syriens, und sie ist hart umkämpft. Die von den Rebellen kontrollierten Stadtteile sind auf drei Seiten von der syrischen Armee umzingelt, an der vierten fließt der Euphrat. Vor knapp einem Jahr verwandelte sich der Aufstand in einen Krieg, am 22. Juni 2012, um genau zu sein. „Damals flog die syrische Armee zum ersten Mal Luftangriffe gegen uns. Sie dauern bis heute an“, sagt Bashar Al Tammawi. Zahlen sind dem jungen Arzt wichtig. Er ist jemand, der die Dinge genau nimmt.
Bashar Al Tammawi ist dreiunddreißig Jahre alt und eigentlich Urologe. Doch im Krieg wurde er zum „Chirurgen für alles“. Politik interessiert ihn nicht weiter, er hilft Menschen, die verletzt sind, fertig. Als im Oktober 2013 die Situation untragbar für ihn wird, beschließt er zu fliehen und gelangt über den Landweg nach Deutschland: auf Schiffen oder in Lastwagen versteckt, schafft er den Weg von Syrien über Südeuropa bis nach Dortmund. Drei Monate ist er unterwegs. „Geld und Google Maps haben mich gerettet“, sagt er dazu. Wegzugehen und seine Patienten im Stich zu lassen, ist ihm unendlich schwer gefallen.
Die Mutter will ein neues Leben für den Sohn
Der Grund für Al Tammawis Flucht waren seine Eltern. Sie leben im vom Assad-Regime kontrollierten Teil von Deir ez-Zor. Um an den Sohn heranzukommen, verhaften die Assad-Leute Al Tammawis Bruder und bedrohen seine Mutter. Der Bruder kommt wieder frei, doch damit wird klar: Der älteste Sohn muss weg, sonst ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie sich wieder an seiner Familie vergreifen, um ihn zum Aufgeben zu zwingen. Das Regime geht gezielt gegen Ärzte, Pfleger und Pflegerinnen vor, weshalb es kaum noch Mediziner in Syrien gibt. Die Vereinten Nationen kritisieren diese gegen die Genfer Konvention verstoßende Kriegsstrategie seit Jahren erfolglos.
Und so hat sich seine Mutter entschieden. Sie will, dass ihr Sohn ein neues Leben beginnt. Als er bereits in der Türkei ist, ruft er sie an, weil er drauf und dran ist, wieder umzudrehen, doch die Mutter verbietet ihm die Rückkehr strikt. Dabei ist seine Sorge berechtigt: Bis heute ziehen seine Eltern alle paar Tage um, von Verwandten zu Verwandten, um nicht von Regimekräften verhaftet zu werden. Sie sind zu alt für die Flucht, also bleiben sie in Deir ez-Zor, und der kleine Bruder kümmert sich um sie. „Alles ist meine Schuld“, sagt Al Tammawi, und in seiner Stimme schwingt kein Selbstmitleid mit. Er ist daran gewöhnt, Zusammenhänge nüchtern zu benennen, doch für einen kleinen Moment steigen in seinen Augen Tränen auf.
Schon vor Ausbruch der Kämpfe hat er im Verborgenen Folteropfer behandelt. Dank seiner beruflichen Kontakte konnte er lange Zeit Narkosemittel einschmuggeln. „Wir haben gelernt, mit ganz wenig klarzukommen“, berichtet er. „Aber wenn es kein sauberes Wasser, keinen Strom und keine Betäubungsmittel gibt, was willst du machen? Diese drei Dinge sind unverzichtbar.“ Er setzt hinzu: „Und dass die Patienten so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen.“ Das meint Al Tammawi wörtlich, denn auch Thrombosemedikamente gibt es kaum, und so läuft er zwischen den Operationen immer wieder zu seinen gerade erst aufgewachten Patienten, um mit ihnen ein paar Schritte zu gehen. „Das ist für sie sehr anstrengend und schmerzhaft, aber es ist ihre einzige Chance. Im Krieg muss sich der Körper selber helfen.“
Hilfe von außen, von internationalen Organisationen wie dem Roten Kreuz oder dem Roten Halbmond, gab es in den vergangenen 24 Monaten nicht. Die wenigen Medikamentenspenden stammen von kleinen Vereinen oder individuellen Gebern, sie kommen hauptsächlich aus der Türkei und Saudi-Arabien, zweimal auch aus Deutschland. Doch sie reichen hinten und vorne nicht. Deir ez-Zor ist seit fast zwei Jahren eingeschlossen.
Wenn Bashar Al Tammawi von seinem Krankenhausalltag erzählt, dann scheint es keine Vergangenheit für ihn zu geben. Dann steht er wieder im OP, schneidet unter schwierigsten Bedingungen Kugeln aus Armen und Beinen und flickt Innereien zusammen. Und stets ist jemand dabei, der fotografiert. Fast jede Operation wird dokumentiert. Die syrische Revolution ist auch eine Revolution der MedienaktivistInnen. Auf vier Sticks, die er sorgsam in Noppenplastikfolie eingewickelt hat, sind über 5.000 Bilder gespeichert. Sie haben ihn auf seiner Flucht begleitet. Immer wieder kommt Al Tammawi auf die Fotos zurück und bittet seine Gesprächspartner darum, die Scheu vor Blut zu überwinden und sie sich anzusehen. Vorsorglich hat er eine Auswahl getroffen, die sein Gegenüber schont.
Seine Lieblingsgeschichte aber handelt von Omar. Dreizehnmal nämlich hat Al Tammawi per Kaiserschnitt Kinder zur Welt gebracht. Seine erste Schwangere hatte große Angst vor der Operation; sie wusste, dass es seine erste Geburt war. Doch alles ging gut. Während der Belagerung von Deir ez-Zor ist es Brauch geworden, dass bei schwierigen Geburten die Neugeborenen den Namen des Arztes erhalten. Aber Bashar – der Vorname des verhassten Regimechefs – will im Moment niemand heißen. Das wäre ungefähr so, als würde man einen Juden auf den Namen Adolf taufen. Noch immer muss Al Tammawi lachen, wenn er daran denkt. Sein erstes Baby nannte er also Omar, das bedeutet „Leben“. An den Kaiserschnitt erinnert er sich noch in allen Einzelheiten, als läge er erst einige Tage und nicht mehr als zwölf Monate zurück.
Danke, bitte Geduld
Jetzt wohnt Bashar Al Tammawi in Gatow, 21 Busstationen von einem der nördlichsten Berliner Stadtteile, Spandau, entfernt. Außer Bäumen gibt es hier nicht viel. Es ist seine dritte Unterbringung, seitdem er im Januar in Dortmund eingetroffen ist. Die Chancen auf Anerkennung des Asylantrags stehen für syrische Flüchtlinge im Moment nicht schlecht. In Dortmund meldet er sich in der Zentralen Ausländerbehörde Hacheney an und wird direkt in das Flüchtlingsheim Burbach bei Siegen geschickt. Eine Woche später kommt er nach Berlin-Spandau. Weil es dort aber keine freien Plätze mehr gibt, wird er in ein Hostel in Berlin-Kreuzberg verlegt, wo er sich das Zimmer mit zehn anderen Flüchtlingen teilen muss. Immerhin ist es nicht so schmutzig wie in Spandau. Und jetzt also Gatow.
Al Tammawi ist müde, aber seit einer Woche fährt er nun jeden Tag von seiner neuen Bleibe nach Moabit zu einem Deutschkurs, drei Stunden hin, drei Stunden zurück. Eine Freundin hat ihm den Kurs besorgt. Ohne die private Hilfe wäre er verloren gewesen, denn in den diversen Unterkünften konnte ihm niemand bei der Frage weiterhelfen, wo und wie er die Sprache seines Gastlandes am schnellsten erlernen könnte. „Wenn du aus dem Krieg kommst“, sagt Al Tammawi, „dann erträgst du keine tote Zeit. Das Wichtigste ist, wieder etwas aufzubauen. Eine neue Sprache ist Aufbau.“ In einer der ersten Unterrichtsstunden hat er neben „danke“ und „bitte“ auch „bitte Geduld“ gelernt. Für ihn ist das die bislang wichtigste Redewendung. Denn Geduld braucht er. Und Disziplin. Er würde gerne in Deutschland als Arzt arbeiten. Und so kämpft er sich tapfer durch die deutsche Bürokratie.
Die Wörter „Spandau“, „Ausländerbehörde“ und „Sozialamt“ gehen ihm inzwischen akzentfrei über die Lippen. Nächste Woche ist die zweite Anhörung für seinen Asylantrag. Davon hängt jetzt alles ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe