: Alles wird Grillgut
Eine Hitzewelle im sommerlichen Park – mit Rundtanz, Lichtkreis und Milva
Still lag das Land unter einer schweren Hitze. Die Menschen gaben Ruhe; zumindest brüllten sie nicht mehr. Sie hatten ihre Körper, ihre Behausungen und ihre Automobile entflaggt, entwimpelt und entfahnt, man konnte die Augen wieder öffnen, ohne auf der Stelle schwarz-rot-gold-blind zu werden.
Der kollektive Wahn hatte Pause. So konnte man sich wieder dem Einzelirrsinn zuwenden, der im Gegensatz zur Massenhysterie die eingehende Betrachtung lohnt, weil er vergleichsweise leise irritiert und damit der Daseinsroutine subkutan in die Quere kommt. Nicht selten ist individuelle Verrücktheit sogar charmant.
Alles fuhr an die Gewässer oder legte sich unter Bäume. Im Park hatte ein junger Mann ein Tasteninstrument aufgebaut und spielte Bach. Er war nur mit einer kurzen Turnhose bekleidet. Einen Hut hatte er nicht neben sich gelegt, er wollte kein Geld, keine Almosen, er spielte Bach, um Bach zu spielen und dabei nicht allein zu sein. Zehn Meter weiter lag ein Pärchen eng umschlungen auf einer Decke auf dem Rasen. Solange die Frau und der Mann sich küssten, hielten sie die Schrecken der Welt in Schach. Hört nicht auf damit, dachte ich. Hört niemals auf, euch zu küssen.
Ich radelte auf meinem Gazelle-Fahrrad noch ein wenig um des Radelns und um des Fahrtwinds willen weiter, ließ mich dann im Schatten nieder, breitete Buch, Schreibzeug, Proviant und Rauchwaren auf meiner Decke aus und streckte mich behaglich hin. Mit dem Strohhut fächelte ich mir Luft zu und hielt Umschau. Viele Menschen kamen des Wegs, einzeln, zu zweit oder in Gruppen. Nicht wenige führten ambulante Grillgeräte mit sich, dazu Papiertüten mit Holzkohle und Rucksäcke oder Kühltaschen voller Getränke und Grillgut. Kann man Grillgut eigentlich essen? Oder ist das so etwas wie Stein- oder Salzkammergut? Wird es am Ende nur verbrutzelt, um die Luft mit Rauch zu schwängern und so ein archaisches Gefühl der geselligen Sicherheit am Feuer zu erzeugen? Alles wird Grillgut, dachte ich. Irgendwann kommen alle in den großen Marinadetopf, werden gegrillt und weggefressen, und dann ist Ruhe im Karton.
In der Wärme nickte ich ein und döste weg. Als ich erwachte, wurde es Abend, die Dämmerung war angebrochen. Ich sah mich um. Nur wenige Meter von mir hatte sich eine Gruppe ins Gras gelagert, die vorher noch nicht da gewesen war. Ich zählte drei Frauen und drei Männer, alle etwa Mitte 50. Sie hatten Teelichter in Gläser gestellt, angezündet und in zwei Kreisen um sich herum im Gras aufgebaut. In der Mitte des doppelten Lichtkreises befand sich ein dritter kleiner Kreis aus Kerzen; um diesen Kreis saßen sie und unterhielten sich halblaut – laut genug, dass ich jedes Wort verstehen konnte.
„Der Rundtanz ist eine der ältesten Kulturformen überhaupt“, sagte eine der Frauen und erhob sich. Sie trug ein langes, wallendes Kleid. „Wir wollen jetzt zusammen um den kleinen Lichtkreis tanzen. Es ist schön, gemeinsam Schritte zu lernen.“ War das wahr? Das wollte ich sehen. Ruhig blieb ich liegen. Alle waren aufgestanden, hatten sich um die Lichter herum hingestellt und hielten sich bei den Händen. Der Haltung ihrer Körper nach zu urteilen, schienen sie eher verlegen als begeistert zu sein. Die Sprecherin aber hatte genug Enthusiasmus für alle: „Wie schön, dass ihr mit mir tanzen wollt.“ Sie bückte sich und fummelte an einem CD-Spieler herum.
Musik erklang, eine Stimme sang auf Griechisch. Ich kannte das Lied. Es war von Mikis Theodorakis, auf Deutsch hatte es Milva gesungen, und in manchen Frauenkreisen hatte es Furore gemacht: „Iich mag diich, weil du klug und zä-hä-härtliich biist, doch das iist es nicht a-lla-heiin / Du zeiigst miir iimmer, dass es mö-hö-höglich iist, ganz Frau und trotzdem freii zu seiin …“ Was Theodorakis sang, verstand ich nicht, aber ich sah das Sextett um die Kerzen herumtaumeln, ungelenk und tapsig, fern jeder Rhythmik, eher in schüchtern versuchter Selbstvermeidung denn in Ekstase. Nur eine im Kreis schien zu allem entschlossen und riss die gutmütige Strummselgruppe mit sich. Die Frau hatte offenbar ganz prachtvoll einen an der Waffel.
Die Gruppe sank ins Gras zurück. Erneut riss die Sprecherin das Gespräch an sich: „In der ersten Hälfte des Lebens lernt man, in der zweiten genießt man.“ Das klang nicht allzu originell, eher nach Kalenderblatt und Konsensmilch. Und stimmte es überhaupt? Oder ölt man in der zweiten Hälfte des Lebens genauso dämlich herum wie in der ersten, ohne allerdings den Charme der Jugend auf seiner Seite zu haben? Ist nicht sowieso alles ein erbärmliches Gewürge, Geknatter und Gehummse?
Die Sprecherin erhob sich und nötigte ihre Begleiter, es ihr gleichzutun. „Ich habe noch einen schönen Rundtanz für uns“, drohte sie. „Das Lied heißt ‚Die Ulme‘ und stammt aus Litauen.“ Sie wandte sich dem CD-Spieler zu. Schleunigst rakte ich meine Sachen zusammen, warf sie in den Fahrradkorb und zischte auf meiner treuen Gazelle davon. Zwischen meinen Ohren aber hatte ich Milva: „… ganz Frau und trotzdem freii zu seiin …“ – Wieso eigentlich „trotzdem“?
WIGLAF DROSTE