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Archiv-Artikel

Alle Gefühle liegen auf Grundeis

Krieg, Krankheit, Kolonie, Kapitalismus und wieder Krankheit: ein Hörbuch nach der gefeierten Neuübersetzung von Louis-Ferdinand Célines „Reise ans Ende der Nacht“

Hell wird es nicht wieder nach dieser fiebrigen Reise, die erst endet, als alle Hoffnungen enttäuscht, alle Illusionen über Bord geworfen sind. In seinem umstrittenen Erstling von 1932 ging Louis-Ferdinand Céline der dunklen Seite des Verstands auf den Grund, leidenschaftlich zynisch, bodenlos angeekelt. Mit 20 Jahren erlebte er als Medizinstudent den Ersten Weltkrieg, und aus der Perspektive der Schützengräben begreift auch seine Hauptfigur, der Armenarzt Ferdinand Bardamu, die Welt: „Vor den Menschen, vor ihnen allein muss man Angst haben.“

Ein Leitsatz, der sich immer wieder bestätigt auf seiner Irrfahrt, die von der alten in die neue Welt führt und wieder zurück. Verwundet überlebt Bardamu das Schlachtfeld und kann sich über den vorgetäuschten Humanismus im Hospital nur noch lustig machen. Um dem Krieg zu entgehen, lässt er sich in die Psychiatrie einweisen und bekommt mit wissenschaftlichen Methoden Patriotismus beigebracht. Dann also Afrika, sagt er sich und „schlendert von einem Rand des Scheiterns zum anderen“. Bardamu arbeitet in der Verwaltung einer tropischen Kolonie, schwitzt sich den letzten Rest von Seele weg und erlebt die totale Entwertung des Lebens in der Sklaverei. Knapp überlebt er die Überfahrt in die USA und begegnet dort, an seinem Traumziel, der modernen Form der Lohnsklaverei in den Werkstätten von Henry Ford. Zurück in Paris wird er Armenarzt in der Vorstadt.

Krieg, Krankheit, Kolonie, Kapitalismus und wieder Krankheit. Diese Stationen aus Ferdinand Bardamus Reise geben die fünfteilige Struktur dieses Hörspiels vor. In seiner Fassung folgt Michael Farin der Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und entscheidet sich dafür, die radikale Klage der Hauptfigur mehrstimmig zu erzählen. Felix und Florian von Manteuffel teilen sich den Part von Bardamu, und dieses Duo ergänzt sich gut – die junge Stimme drängt vorwärts, die ältere grundiert den Weltekel aus der Rücklage. Vielleicht manchmal mit allzu samtig-weisem Timbre, denn Bardamus Erkenntnisse sind ausnahmslos bitter: „Wenn man nur unverschämt genug ist, dann ist einem so gut wie alles erlaubt, absolut alles. Man hat die Mehrheit auf seiner Seite. Und schließlich bestimmt die Mehrheit, was als verrückt zu gelten hat und was nicht.“ Dass sich Céline fünf Jahre später auf die Seite der Masse schlug und einige antisemitische Hasstiraden schrieb, von denen er sich nie distanzierte, bleibt schwer verdaubar.

Doch 1932 lag der Fokus seiner Zivilisationskritik noch auf der Klassengesellschaft, die er von ganz unten beschreibt. „Sie tun selbst nichts Böses, die Reichen. Sie zahlen.“ Am Rand wird gestorben, und der Rest schaut, wie er weiterkommt. Wie gnadenlos die Hierarchien im Krieg funktionieren, erzählt die erste Station dieses Hörspiels in einem eindrücklichen akustischen Panorama; auch wenn die Mittel manchmal erwartbar sind. Pferdegewieher, Peitschenknallen, Kanonendonner, das alles hätte es nicht gebraucht, denn im Untergrund legen die elf Musiker von zeitblom parallel zu den Stimmen ein verzweigtes Klanggebilde.

Gemessen an der sprachlichen Sprengkraft von Célines Debüt bleibt dieses sorgfältig gesprochene und produzierte Hörspiel (Bayrischer Rundfunk) überraschend klassisch. Denn es war nicht allein der Nihilismus, der Célines Leser 1932 kalt im Nacken packte; es war vor allem auch sein Umgang mit der Sprache. In unvollständigen Sätzen und schiefer Grammatik schleudert er seinen wütenden Ekel heraus, und dagegen wirkt der Stimmenzauber dieses Hörspiels manchmal etwas wohlfrisiert. Was Céline erzählt, legt alle Gefühle auf Grundeis, untergräbt systematisch die Hoffnung, dass es vielleicht doch eine andere Spielregel geben könnte als „alle gegen alle“. Seine Reise endet nicht; er lässt den Leser einfach im Dunkeln stehen. In der Überzeugung, dass sich dort die wirkliche Geschichte ereignet. IRENE GRÜTER

Louis-Ferdinand Céline: „Reise ans Ende der Nacht“. Der Hörverlag 2008. 5 CDs, 29,95 Euro