Alke Wierth Die Fußgängerin: Auch jetzt zum Jahresende stellt sich die Frage: Was geht?
Yo, Alke, was geeeeeeht?“, begrüßt mich mein Lieblingskollege. Ich arbeite seit einiger Zeit unter lauter Jugendsozialarbeiter*innen, auf die der Sprachstil ihrer Zielgruppe teilweise etwas abfärbt. Normalerweise kann ich damit ganz gut umgehen. Doch an diesen letzten Tagen des Jahres 2024 geht mir das langgezogene „eeeee“ beinahe schmerzhaft direkt an die Substanz: Denn es wirkt auf mich, als drücke es schon die Begeisterung des Fragenden darüber aus, was ich jetzt alles Tolles antworten werde.
Begeisterung geht mir persönlich am Ende dieses Jahres jedoch ebenso ab wie Antworten. Ich habe eher Fragen: Ja, was geht eigentlich? Geht gerade überhaupt noch irgendwas? Und falls ja: Geht es auch gut?
Ich jedenfalls gehe noch immer, denn ich bin Fußgängerin. Und als solche bewege ich mich eher langsam durch die Welt. So kann man sie gut betrachten. Und zum Beispiel sehen, was gerade so geht. Ganz am Anfang dieses Jahres habe ich in einer dieser Kolumnen aus einem Buch des US-Schriftstellers Jonathan Franzen zitiert: Er spricht darin von Menschen, die sich in der Öffentlichkeit bewegten, „als sei die Welt ihr Schlafzimmer“. Das ist eine Anspielung auf ihre schlafzimmerhaft informelle Art der Bekleidung wie Flipflops oder Jogginghosen. Ich habe damals versucht, das positiv zu interpretieren: als Versuch, die Welt als eigene Wohnung, als Zuhause zu betrachten, was zur Übernahme von mehr Verantwortung für das Draußen, das dadurch zum Drinnen wird, also auch für die anderen dort führen könnte.
Jetzt, am Jahresende, gehe ich in Berlin durch immer mehr Schlafzimmer. Ich sehe Matratzenlager in Grünanlagen, unter Hochparterrebalkonen, in Bushaltestellen, in den Eingangsbereichen leerstehender Geschäftslokale. Ich sehe Einkaufswagen daneben stehen, in denen die, die dort leben, ihre letzten Habseligkeiten aufbewahren; ich sehe junge und alte Menschen dort schlafen, die sich mit Plastikplanen vor Regen und Kälte schützen.
Sie müssen die Welt als ihr Schlafzimmer betrachten. Ich glaube nicht, dass es ihnen gut damit geht; dafür aber jenen, nehme ich an, die die Verantwortung dafür tragen, dass immer mehr Menschen draußen leben: Denn das Mietwucherbusiness geht ja nicht nur, es läuft!
Einfach bloß gehen sollen dagegen jetzt auch syrische Geflüchtete. Denn auch in Syrien soll es ja bald – vielleicht, eventuell, möglicherweise – wieder besser laufen. Das gehe ja gar nicht, dass die gehen, ist dazu ausgerechnet aus Sachsen zu hören, wo die Abschiebeparteien CDU und AfD bei der letzten Landtagswahl auf zusammen fast 70 Prozent der Stimmen kamen. Nun jedoch warnt die dortige Krankenhausgesellschaft: Es drohten im sächsischen Gesundheitssystem Versorgungsengpässe, wenn die vielen syrischen Ärzt*innen, die dort in Krankenhäusern arbeiten, das Land verlassen würden.
„Haha, geht doch!“, denke ich und weiß selbst nicht, wie ich das gerade meine: Es ist doch wirklich derzeit alles zu bizarr.
„Angesichts der bizarren letzten Tage eines merkwürdigen Jahres fragt die Autorin sich, ob sie mehr lachen oder mehr weinen soll“, stand über einer Kolumne, die ich am Ende des Jahres 2016 für die taz geschrieben habe und die den Titel „Verpiss Dich, 2016!“ trug.
Bizarr bedeutet seltsam oder absonderlich, kommt aber vermutlich vom italienischen Wort „bizza“ für einen Zorn- oder Wutausbruch.
Wie auch immer. Acht Jahre später, am Ende des durchgehend bizarren Jahres 2024 stellt sich mir diese Frage nicht mehr. Dafür habe ich aber auf diese andere Frage, „Yo, Alke, was geeeeeeht?“, eine Antwort gefunden. Sie lautet: so jedenfalls nicht mehr weiter.
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