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Alice im Castroland

■ Neu im Kino: Alicia en el Pueblo de Maravillas“

Die Idee ist brilliant und leuchtet sofort ein: Der kubanische Regisseur Daniel Diaz Torres hat die Grundstruktur und einzelne Motive aus dem Kinderbuchklassiker „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll übernommen und läßt nun sein kleines neugieriges Mädchen eine Entdeckungsreise in die Absurditäten der aktuellen kubanischen Verhältnisse machen.

Ganz so adrett, jung und naiv wie Carrols Heldin ist seine Alicia allerdings nicht. Die Kulturfunktionärin kommt nach Maravilas, um dort die Theaterarbeit zu fördern und erlebt in diesem „Ort der Wunder“ (so wird er im deutschen Titel genannt) die sonderbarsten Abenteuer.

In einem Sanatorium sollen Menschen mit „auffälligem Sozialverhalten“ kuriert werden, und Alicia erfährt nicht nur von den bizarren Schicksalen einzelner Insassen, sondern sie lernt auch die irrwitzigen Kuren der Herrschenden kennen, die aus Hirnen entsprungen zu sein scheinen, die noch viel kranker als die der Insassen sein müssen.Weil Carrolls Buch so frei und phantastisch konzipiert ist – alles ist möglich und hinter jeder Tür tut sich für Alice ein komplett neues Universum auf – kann auch Torres jeder Assoziationskette folgen, ohne sich um Realitäten oder dramaturgische Regeln zu scheren, und so zieht er in einer radikalen Systemkritik alle heiligen Kühe des kubanischen Sozialismus durch den Kakao.

Aber während Carrolls Alice sich im Grunde auch von den haarsträubensten Abenteuern nicht aus der Ruhe bringen läßt und ihr weißes Kleid selbst bei der verrückten Teeparty weder verknittert noch gar befleckt wird, ist Torres Alicia eine enttäuschend reale Frau, die ewig erschrickt, hysterisch schreit und sich sogar ein Bein bricht.

So hat der ganze Film eine ganz andere Grundstimmung als sein Vorbild, denn während Carroll seine wilden Phantastereien aus reiner Fabulierlust schuf, geht es Torres um den satirischen Biß. Hinter jedem Gag fühlt man die Botschaft. Ein kotzendes Megaphon, ein Demagoge, der sich in gelben Schwefel auflöst, ein Restaurant, bei dem das Besteck mit Ketten an den Tisch angeschlossen ist: all das soll auf die Mißstände im Lande hinweisen. Und so lacht man nicht darüber, sondern dekodiert ständig. Und wenn man nicht genau mit den Zuständen im heutigen Kuba vertraut ist und deshalb viele Anspielungen gar nicht verstehen kann, hat man seine Mühe mit diesem Film.

„Alicia en el Pueblo de Naravillas“ mag eine treffende und bissige Satire sein (und die hitzigen Debatten auf der karibischen Insel um den Film sowie die Tatsache, daß er dort nur einige Tage im Kino zu sehen war, sprechen dafür). Aber rein filmisch gesehen ist er eher enttäuschend. Torres sagt selber, daß er den Film als „ernstgemeinten Scherz“ versteht. Seine Wunder sind letztlich doch allzu vernünftig.

Wilfried Hippen

Kino 46, Fr. bis Mo. 20,30 Uhr/Originalfassung mit Untertiteln

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