Album mit 70s-Blues aus Chicago: Erst vor'n Spiegel, dann ins Nachtleben
Das Doppelalbum "Light on the Southside" versammelt unbekannte Aufnahmen lokaler Chicagoer Blues-Künstler. Zur grandiosen Musik gibt's einen Fotoband.
Die Geschichte des Blues wurde schon oft erzählt. Meist recht einseitig wird er als historischer Musikstil der armen schwarzen Landbevölkerung im Süden der USA beschrieben. Dass die Geschichte des Blues aber noch ganz andere, recht gegenwärtige Facetten zeitigt, beweist die Veröffentlichung eines Doppelalbums mit Aufnahmen der lokalen Chicagoer Blues-Szene in den Siebzigerjahren. Flankiert ist dieses grandiose Dokument von einem 132-seitigen Fotoband, der großformatige Aufnahmen aus den Jahren 1975 bis 77 enthält.
Keineswegs blickt man darin in vom Leben gezeichnete Gesichter ausgemergelter schwarzer Männer, die über eine Gitarre gebeugt mit Ich-habe-schon-alles-gesehen-Blick Blues-Klischees erfüllen. Klischees, die dem Blues in den Sechzigern zu einer Renaissance bei weißen Folkfans verholfen haben.
"Light on the Southside" porträtiert Menschen, die sich herausgeputzt haben. Sie stehen lange vor dem Spiegel, bevor sie das Haus verlassen, um am sozialen Leben teilzunehmen; Menschen, die getrunken oder Drogen genommen haben und mit glasigem Blick tanzen: Aufreißer und Frauen, die sich nachts in Vamps verwandeln, um auch noch mit über 40 ein Weekendwarrior-Leben zu führen. Willie Nelsons Song "The Night Life Aint No Good Life, But Its My Life" wird hier, in einer winzigen Ecke der Welt, zur Wahrheit.
Michael L. Abramson, der diese Fotos aufgenommen hat, ist in den Siebzigern ein schlaksiger, junger Weißer mit Burt-Reynolds-Schnauzer. Von einem Freund wurde er auf den Bluesclub "Peppers Hideout" in der Southside Chicagos aufmerksam gemacht. Die Southside ist ein riesiges, auch heute noch fast ausschließlich von Afroamerikanern bewohntes Ghetto im Süden der drittgrößten US-Stadt. "Die Kamera war ein Werkzeug, das meine Präsenz fast überall rechtfertigte", schreibt Abramson im Nachwort, "auch in einer rein schwarzen Umgebung!"
Dem Mainstream voraus
Tatsächlich hat Abramson mit seiner Kamera einen Lebensstil eingefangen, den man auch bei Bootsy Collins, Grace Jones oder Snoop Dog als Muster erkennen kann. Er hat schon lange in die afroamerikanische Popmusik Einzug gehalten, wurde aber erst viel später, in den Neunzigern, zum Mainstream.
Der Fotoband von "Light on the Southside" ist nur zusammen mit dem Doppelalbum erhältlich. Die Musik funktioniert dabei wie eine imaginäre Jukebox dieser Bilder aus den Blues-Clubs. Dass der spezialisierte Tonträgerhandel und nicht der Buchhandel als Vertriebsweg gewählt wurde, unterstreicht: "Light on the Southside" handelt von Musik und dem sozialen Milieu ihrer Entstehung.
Tatsächlich hat die hier vorgestellte Musik nur noch der Struktur nach etwas mit dem Delta-Blues der Vorkriegsära zu tun. Längst hatte sich in ihrer städtischen Ausprägung der große Bruder Soulmusik stilistisch in den Blues eingeschlichen. Die Drummer spielen brettharte Funkrhythmen und auch der psychedelische Einfluss von Jimi Hendrix Wah-Wah-Pedal-Exzessen ist nicht zu überhören.
Urbane Nische
Der urbane Blues bescherte den allermeisten Beteiligten im Chicago der Siebziger dennoch ein Nischendasein. Sie spielten für eine Handvoll US-Dollar und Drinks zum halben Preis die ganze Nacht. So ist auf "Light on the Southside" keine weichgespülte Nostalgie, sondern aggressive Tanzmusik zu hören, eingespielt von Musikern, die in keine Hall Of Fame aufgenommen wurden.
Oder hat jemand schon mal von Lady Margo, Ricky Allen, der Slim Willis Band oder Mack Simmons gehört? Überhaupt Mack Simmons! Er, der sich selbst "the Worlds greatest Harmonica Player" nannte. Simmons Weg führte über Arkansas und St. Louis nach Chicago, wo er drei Jahre im Gefängnis brummen musste, weil er mit einer kleinen Menge Marihuana erwischt wurde. Seiner kriminellen und musikalischen Energie tat das keinen Abbruch; kaum entlassen, nutzte er seine Knastkontakte, um mit seiner neu gegründeten Band durch Texas zu touren. Dabei war die Musik eher sekundäre Einnahmequelle. Seine Tourneen waren das Alibi für eine Schmuggelroute, um mexikanisches Heroin vom Süden der USA nach Chicago zu importieren. Das damit verdiente Geld investierte er in ein Plattenlabel namens "Dud Sound", dessen Veröffentlichungen auf "Light on the Southside" vertreten sind.
Musikbusiness war Gangsterbusiness, in den Siebzigern wurde dabei "Funny Money" gewaschen. Wenn Mack Simmons jeden Montag im "Peppers Hideout" auftrat, waren sicher keine Betschwestern im Publikum. Auf einem Foto ist ein Küchenmesser im Hosenbund eines Besuchers des "Peppermint Hideout" zu erkennen. Er trägt dazu eine Totenkopfjacke und man merkt, dass hier Leute verkehrten, die ihr Geld schon lange nicht mehr als Schuhputzer verdienten.
Anders als Jacob Holdts Fotoband "Bilder aus Amerika", der in den Siebzigerjahren die Zustände in US-Großstadtghettos ins Bewusstsein rief, versucht Abramson in seinen Bildern nicht zu bewerten oder gar Mitleid zu erhaschen. Er fotografiert ausgelassene Menschen in einer sehr kleinen Nische ihres marginalisierten Daseins. Das Ganze wäre nur ein gewöhnliches Fotobuch, dass irgendwelche Veranstalter als Flyervorlage für ihre nächste "Superfly"-Party missbrauchen könnten, wäre nicht ein direkter Zusammenhang mit dem Blues und dem Kontext seiner Entstehung hergestellt.
Ethnologie der Großstadt
Linernotes, Fotos und Musik geben so einen tiefen Einblick in eine nahezu unbekannte Musikszene. Das verdienstvolle Projekt "Light on the Southside" reicht auch weit über den Standard im Reissue-Segment hinaus. Abramson ist weniger Dokumentarist als ein Großstadt-Ethnologe, eine Art Hubert Fichte mit Kamera. Hinter dieser Veröffentlichungsstrategie steht das zur Zeit beste Reissue-Label Numero Group. Es hat sich die Wiederbelebung vergessener Soul-Mikrokosmen zur Aufgabe gemacht. "Keine Veröffentlichung ohne ihre Geschichte", lässt sich Labelgründer Ken Shipley zitieren. Und weiter: "Es gibt unendlich viel gute Musik, aber ohne die Leute, die diese Musik gemacht haben, die lokalen Studiobesitzer und Kleinstlabelbetreiber, die erzählen, wie und unter welchen Umständen ihre Musik entstanden ist, veröffentlichen wir sie nicht!"
Diese Aufgabe ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die meisten der Protagonisten sind inzwischen im Rentenalter. Als Nächstes steht auf dem dichten Veröffentlichungsplan ein Album mit Gospel-Funk und das Gesamtwerk des Chicago-Soul-Veteranen Syl Johnson. Numero Group ist das Reparationsprogramm des kleinen Mannes im Musikbusiness. Von obskurem Folk bis zum Output von winzigen Soullabels finden sich hier Popmusik-Schätze. Die Umstände, unter denen sie entstanden sind, ließen Musikusse von heute vermutlich lieber den Beruf des Grafikers oder Onlineredakteurs einschlagen. Um staatliche Subventionen hat jedenfalls niemand gebettelt, der dank Numero Group dem Vergessen entronnen ist.
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