: „Albanien soll wie ganz Europa werden“
Bergarbeiter erzwangen durch Streiks Lohnerhöhungen/ Demokratische Parteien, Menschenrechtskomitees und regierungsunabhängige Zeitungen sprechen für Demokratisierungsprozeß/ Weiterhin Unklarheit über Wahltermin ■ Aus Albanien I. Kelmendi
Um Milch, Eier oder Fleisch zu besorgen, stehen die AlbanerInnen um 4 Uhr morgens auf und stehen stundenlang Schlange. Fast alle elementaren Nahrungsmittel fehlen. Viele würden gern im Westen Arbeit finden und suchen nach Fluchtmöglichkeiten. Die Lage ist sehr gespannt. Es finden Streiks und Kundgebungen statt. Neue Parteien entstehen. Es wird über alles offen und sehr kritisch diskutiert.
Im zwölf Kilometer von Tirana entfernten Kohlebergwerk Valias sind seit einigen Tagen die Bergarbeiter der Kohlengrube in den unbefristeten Streik getreten. Sie fordern 200 Prozent mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Inzwischen gibt es Verhandlungen mit der Regierung, die über keine Mittel verfügt und wirtschaftlich am Ende ist. Zugestanden wurden ihnen 40 Prozent Lohnerhöhung und die Herabsetzung des Rentenalters von 55 auf 50 Jahre. Über die Gespräche sickerten nur spärliche Informationen durch. Auch die Opposition hat sich für die Beendigung des Bergarbeiterstreiks ausgesprochen. Der Delegierte der Ökologischen Partei, Namik Hotik, wurde mit den Worten zitiert: „Wir sollten losgehen und die Arbeiter zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit bewegen. Gleichzeitig sollten wir die Rädelsführer isolieren.“ Der Delegierte der Republikanischen Partei, Gafur Muca, soll erklärt haben, daß die Bergarbeiter mit ihren Forderungen „die Grenze zur Anarchie überschritten“ hätten. Die Bergarbeiter sind mit Hilfe von Sicherheitskräften von der Außenwelt abgeschnitten. Die Presse wird nicht zu den Streikenden durchgelassen. Ein von den Kumpels nach Tirana abgeordneter Bergarbeiter sprach von einem Zwölf-Punkte-Forderungskatalog der Streikenden, den er aus Angst vor in der Nähe stehender Polizei jedoch nicht aufzählen konnte.
Bis jetzt wurden drei oppositionelle Parteien legalisiert: die Demokratische Partei Albaniens, die Ökologische Partei und die Republikaner. Die Demokratische Partei ist die stärkste. Sie organisiert täglich mehrere Kundgebungen, trotz des Widerstands der organisierten Mitglieder der Partei der Arbeit Albaniens und der Demokratischen Front.
Gestern fand in Tirana eine Kundgebung statt, an der 30.000 Menschen teilnahmen. Sie bekundeten ihre Solidarität mit der Demokratischen Partei Albaniens und den streikenden Bergarbeitern und forderten „Freiheit und Demokratie“, „Verschiebung der Wahltermine“, „Nieder mit der Diktatur“ und „Albanien soll wie ganz Europa werden“. Gefordert wurde ferner der friedliche Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft. Nach Angaben der Demokratischen Partei, die inzwischen 26.000 Mitglieder zählt, versuchten jedoch Provokateure, die Kundgebungen zu stören.
Seit dem 5. Januar erscheint die Zeitung der Demokratischen Partei, 'Rilindja Demokratike‘ ('Die Demokratische Renaissance‘). Sie schreibt kritisch über die jetzige Regierung der Partei der Arbeit Albaniens und mokiert sich — allerdings metaphorisch — über die Gedenkstätte für Enver Hoxha. Kürzlich erschien eine Erzählung des im Exil lebenden berühmten Schriftstellers Ismajl Kadaré mit dem Titel Wie wurde die Cheopspyramide gebaut?
Auch ein Komitee für die Verteidigung der Menschenrechte wurde gegründet. Dessen Vertreter sollen wegen der Frage der „Genehmigung“ vom Justizminister empfangen werden. Der Präsident des Komitees, Prof. Arben Puto, berichtete in einem Interview von Tausenden von politischen Gefangenen und beschwerte sich über die langjährigen Haftstrafen, die gegen die Hooligans, wie man die gewalttätigen Demonstranten offiziell hier nennt, ausgesprochen wurden.
Alle Gesprächspartner sind sehr pessimistisch über die Zukunft. Sie befürchten, daß es zu einem Bürgerkrieg kommen kann. Bis jetzt ist unklar, ob die Wahlen am 10. Februar stattfinden werden. Die Demokratische Partei fordert eine Verschiebung; anderenfalls droht sie mit Boykott. Gestern sollten Gespräche zwischen Staats- und Parteichef Ramiz Alia und den Oppositionsparteien stattfinden. Nach inoffiziellen Informationen aus Tirana könnte Alia einer Verschiebung um etwa einen Monat zustimmen. Bisher war die Opposition mit ihrer Forderung nach einer dreimonatigen Verschiebung bei Alia auf Ablehnung gestoßen.
Es gibt inzwischen acht Parteien, die ihre Kandidatur zur Wahl angemeldet haben. Nur die eingangs erwähnten drei Parteien sind als oppositionell zu bewerten, die anderen werden von der Partei der Arbeit „gesteuert“, wie es hier heißt.
Alle Parteien haben kein Konzept zur Bewältigung der katastrophalen Wirtschaftskrise. Ebenso wie die Regierung hoffen sie auf ausländische Kredite und Investitionen. Die jetzige Regierung ist von dem bislang geltenden Prinzip des Vertrauens auf die eigene Kraft abgewichen und versucht durch neue Gesetze und Bestimmungen, die ausländischen Firmen ins Land zu holen, um die bankrotte Wirtschaft zu beleben. Sogar kulturelle Institutionen werden ausländischen Unternehmen angeboten, weil die Mittel für die weitere Arbeit nicht vorhanden sind. Doch anscheinend halten sich ausländische Interessenten bedeckt: Sie beobachten den demokratischen Prozeß und warten das Ergebnis der Wahlen ab.
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