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Archiv-Artikel

Alain in der Stadt

Robbe-Grillet ist Vater des Zeit- und Identitätsstrukturen verstörenden nouveau roman. Der Autor überließ der taz Bremen Skizzen für ein neues Projekt. Nach Berlin ist Bremen die zweite deutsche Stadt, die er unmittelbar in sein literarisches Spiel einbindet

Ihm blieben exakt dreiundvierzig Stunden und fünfzehn MinutenDer Blick durch Bullaugen, durch das Spiegelbild hindurch,

Draußen bricht sich eine weiße Wintersonne im dünnen Nebel. Seit gestern liegt ein feiner, fast unmerklicher Schleier über der Stadt. Ein feuchter Schleier, verwoben mit der Luft, fast wie ein anhaltender Regen, der kontinuierlich fällt, als habe er etwas nachzuholen. Jedoch ohne Hast, er ist ganz in seinem Element und nimmt sich alle Zeit, die er braucht, eine Woche, zwei Wochen, der treue Regen, auf den man stets zählen kann, das Bremer Wetter, das André Robbe-Grillet-Wetter: Auch wenn es erst seit zwei Tagen regnet, ist es, als ob es niemals je aufgehört hätte, zu regnen.

Er ist zum ersten Mal in dieser Stadt, André Robbe-Grillet, der Begründer des nouveau roman, der, berühmt, bevor er gelesen wurde, von der Beobachtung ausgehend, mittels Wiederholungen, Einschüben und mäandernd im fensterlosen Zimmer, an einem Tisch aus dunklem Mahagoni ersonnenen partizipiensatten Sätzen nach Möglichkeiten sucht, die Identität seiner Figuren und Orte, die Zeit seiner Erzählung sanft gleitend ins Paradoxon zu führen. Arges Spiel, das Verbotenes unbemerkt festschreibt, während es Gewöhnlichem die Aura des Untersagten gibt. Der Autor, dem die schwedische Akademie 1985 nach einem von ihm selbst gestreuten Gerücht nur wegen der stets, seit dem zwölften Lebensjahr, freimütig bekannten Zuneigung zu mehr oder minder pubertierenden, blonden Mädchen nicht ihren Preis zuerkannte, sondern einem der zahlreichen, von ihm ins Editionshaus eingeführten literarischen Protégés, ist erstmals in der Stadt.

Auf dem Airport Bremen war das Flugzeug am Freitag planmäßig um 22.20 Uhr gelandet. A. R.-G., dessen Zeit so genau abgemessen war, stellte das mit Befriedigung fest. Der Flug war ohne jegliche Komplikation verlaufen. Er hatte genau zwei Stunden gedauert, zwanzig Minuten weniger als für die Rückreise zu veranschlagen war. Auf jeden Fall dürfte er, einmal in der Stadt angekommen, keine Minute verlieren; diese so knapp bemessene Zeit stellte das Hauptproblem seiner Lesereise dar. Die Fluggesellschaft erleichterte ihm nämlich die Aufgabe kaum: Es gab nur zwei F-50-Maschinen täglich, die zurück flogen zum Aéroport Charles de Gaulle, die eine um 7 Uhr früh, die andere zehn Stunden später um 17.30 Uhr. Da er nicht nur am Samstag auf einem Filmsymposium über Zeitsprünge sprechen würde – obgleich das Glissando, nicht der Sprung, seine Methode war, das Kontinuum aufzubrechen – sondern auch verpflichtet war, am Sonntag um 11 Uhr bei einer Veranstaltung aufzutreten, zugleich jedoch am Montag einen unaufschiebbaren Termin in New York wahrzunehmen hatte, kam es nicht in Frage, sich in der Stadt für mehr als ein Wochenende einzuquartieren. Demnach blieben ihm exakt dreiundvierzig Stunden und fünfzehn Minuten – also zweitausendfünfhundertachtzig plus fünfzehn ist gleich zweitausendfünfhundertfünfundneunzig Minuten. Es ließ sich folglich ausrechnen, wieviele Zeit A. R.-G. auf jede Seite seines im vergangenen Jahr, annähernd zeitgleich zu seinem Geburtstag – er war 80 Jahre alt – in Deutschland erschienenen neuesten Werk verwenden konnte: Es waren zehn Minuten und zweiundvierzig Sekunden, legte man die Übersetzung zu Grunde. Allerdings würde R. in französischer Sprache vortragen und möglicherweise, da ein leichtes Stottern seinen Redefluss hemmt, auch auf gefährliche Erklärungen im Idiom Goethes, das er fehlerfrei spricht, verzichten. Diese aber, die Originalausgabe, war um fünfzehn Seiten länger, sodass der Reisende die Berechnungen von neuem aufnahm, bevor er wiederum stockte. R. hatte weder vor, den Roman in Gänze vorzutragen, noch wäre es möglich gewesen, die Lektüre während des Aufenthalts ununterbrochen fortzusetzen.

Allein die Wege, die das Programm festlegte und die er sich auf einem vor Jahren, anlässlich eines Zwischenstopps auf dem Wege nach Hamburg erworbenen Stadtplans vorab eingeprägt hatte – der Parcours, der, ausgehend von der Brache des Flughafens im Südwesten zunächst in ein nördliches Viertel, wo, wie er wusste, sein Quartier läge, über einen westlichen Außenbezirk zurück ins Zentrum führte, beschrieb eine merkwürdig-unregelmäßige, im inneren aber spiralförmig zusammen laufende Figur – mussten diese Zeitplanung zunichte machen.

Zumal R. am kommenden Abend über den vor mehr als 30 Jahren entstandenen Film „Der Mann, der lügt“ zu referieren hätte, in einem Kino, das eine Zahl im Namen führte, die, als Jahr verstanden, genau den Zeitpunkt angab, zu dem R. sein Ingenieurs-Diplom als Agronom erworben hatte, lange bevor ihm sadomasochistische Szenen seiner Filme den Ruf eintragen würden, ein frivoler Snob des Blutes zu sein.

„Walle“, murmelte der Regisseur. So hieß jener Stadtteil im Westen, in dem am kommenden Abend der Vortrag stattfinden würde. Dabei unterschlug R., wie in seiner Muttersprache üblich, das „e“. „Wall“, wiederholte er, leicht amüsiert von der Ähnlichkeit des Namens mit dem einer seiner Figuren: Wallon, so hieß der Geheimagent, natürlich mit einem falschen Pass ausgestattet, „Wall“ nannten ihn die suspekten deutschen Wirtsleute, in deren Etablissement auch die Begegnung zwischen jenem Reisenden und der ebenso engelsblonden wie aufreizenden Gigi stattfindet, einer Wiedergängerin der 14-jährigen Geliebten Kierkegaards. Die Räder bereits auf dem Boden, steuerte das Flugzeug, eine wendige AGR- oder ATR-Maschine, nun einen Bogen, der es behutsam den Quais näherte. Die leicht abgerundeten Fensterrahmen waren von einem beigen, leicht gräulichen Kunststoffbezug geschützt, der stellenweise durch Kratzspuren angeraut war. Bei näherem Hinsehen schienen die zufälligen Muster des Verfalls organische Formen abzubilden, ein zerklüftetes Gebirge, ein kurviger Weg, der sich überschnitt und in einer Spirale auszulaufen schien. Durch die von Verunreinigungen getrübten Bullaugen, durch das eigene Spiegelbild hindurch, war es möglich, in die hell erleuchteten, verglasten Warteräume des flachen Terminals zu blicken. Sie waren menschenleer. „Er ist pünktlich heute“, sagte eine Stimme. Und jemand sagte berichtigend: „Beinahe.“ Vielleicht war es dieselbe Person.

Mit einem energischen Griff seiner rechten Hand hebt der Regisseur eine Reisetasche aus hellbraunem Leder vom Rollband Er wendet sich nach rechts, bemerkt aber, dass dort kein Augang ist, macht also kehrt und entdeckt, dem Himmel sei Dank, sogleich ein Empfangskomitee, unter ihnen der Leiter der kulturellen Repräsentanz seines Heimatlandes, der sich keinerlei Ungeduld anmerken lässt, obgleich Abfertigung und Ausweiskontrolle zu ungewöhnlicher Verzögerung geführt hatten.

Wo hatte der Regisseur seine Reise begonnen? In einem weiteren Sinne war es in Brest gewesen, seiner – wie Bremen – stets verregneten Geburtstadt, aber vielleicht auch schon in Bordeaux, wo ihn die Akademie des Weins, aufgrund seiner stets bekannten und thematisierten Zuneigung zu Dionysos, kürzlich zum Mitglieds ernannt hatte. Denn wirklich zählte er gute Speisen, vor allem aber den Wein, die Parfums und kräftige Käsesorten gleich seinen Romanen zu jenen charakteristischen Produkten, die den Ruf seiner Nation im Ausland begründen. „Ich glaube nicht an die Wahrheit“, hat der Reisende einmal, befragt zu seinem Porträtfoto, auf dem sein Bart noch keine graue Farbe angenommen hat, geantwortet. „Weder im Allgemeinen, noch an meine eigene im Besonderen.“

Benno Schirrmeister

André Robbe-Grillet stellt heute um 20.30 Uhr im Kino 46 seinen Film „L‘homme qui ment“ vor. Am Sonntag um 11 Uhr liest er im Institut français, Contrescarpe 19, aus „La Reprise“ („Die Wiederholung“)