Aktivistin über fehlende Barrierefreiheit: „Da läuft extrem viel falsch“
Die gehörlose Julia Probst über Barrieren bei Behörden, den öffentlich-rechtlichen und ihren Einsatz für Menschen mit Behinderung.
Sie wollten am 9. November zu einer Infoveranstaltung eines Jugendamts gehen. Auf Twitter machten Sie öffentlich, dass es Ihnen nicht möglich war. Was ist genau passiert?Ich habe Mitte Oktober mitbekommen, dass die Veranstaltung in meiner Nähe stattfindet. Das Thema – richtiges Verhalten bei Kinderunfällen – ist für mich wichtig, da meine Tochter nun bald zehn Monate alt ist. Ich habe sofort der Behörde und der Organisation gemailt, dass ich gerne teilnehmen möchte und einen Gebärdensprachdolmetscher benötige.Als Antwort bekam ich mitgeteilt, ich solle die Krankenkasse fragen, ob diese die Kosten übernimmt – das habe ich dann auch getan, obwohl mir aus Erfahrung klar war, dass die Antwort negativ sein wird. Das Jugendamt war zwar entgegenkommend, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ein Bewusstsein besteht, dass solche Veranstaltungen barrierefrei sein müssen – das ist nämlich gesetzlich festgeschrieben.
Inwiefern war die Behörde dennoch entgegenkommend?
Sie hat sich direkt an die Dolmetschervermittlungzentrale gewandt, weil die Zeit knapp war. Denn ein Problem ist auch: Man muss idealerweise einen Dolmetscher vier bis sechs Wochen vorher bestellen. Wir fanden mit dem Bezirk Schwaben irgendwann einen Kostenträger, aber bis heute keinen Dolmetscher. Also kann ich nicht hingehen, da eine Teilnahme ohne Dolmetscher sinnlos ist.
Was sind Ihrer Beobachtung nach die Ursachen für diese Probleme?
Meiner Meinung läuft da extrem viel falsch. Ich möchte, dass das System der Dolmetscherbestellung vereinfacht wird: Dass ich bestelle und sich die Dolmetschervermittlung nur noch an die zuständigen Kostenträger wenden muss, weil klar ist, wer was und wann und wo bezahlt. Ich finde es nicht okay, dass Gehörlose sich auch noch um die Kostenträgerermittlung kümmern müssen.
Außerdem hat der Beruf des Gebärdensprachdolmetschers kaum Sichtbarkeit im Fernsehen. Angebote in Gebärdensprache werden in die Mediathek ausgelagert und erscheinen so gut wie nie direkt im Fernsehen. Eine Ausnahme ist die Tagesschau auf Phoenix, aber das ist eben auch ein Spartensender.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist zur Barrierefreiheit verpflichtet.
37, ist selbst gehörlos und engagiert sich seit fast zehn Jahren für Barrierefreiheit.
Die Öffentlichen-Rechtlichen haben ihre Untertitelquote fast zu 98 Prozent ausgebaut, was an sich lobenswert ist. Störend ist immer noch die Verkürzung und die Vereinfachung der Untertitel, wodurch Informationen verloren gehen. Ich plädiere auf 1:1-Untertitel, denn Gehörlose haben das Recht auf die gleichen Informationen, die Hörende erhalten.
Welche konkreten Schritte wünschen Sie sich von der Bundesregierung?
Ich würde mir hier ganz deutlich wünschen, dass die hiesige Politik den gleichen Schritt geht, wie Uganda es neulich getan hat: Die Uganda Communications Commission (UCC) wird die Lizenzen für Fernsehsender nicht verlängern, wenn sie keine Gebärdensprache und Untertitel in wichtigen Nachrichtensendungen und Programmen anbieten.Für Deutschland würde ich das so umformulieren: Die Fernsehsender verlieren ihre Lizenzen, wenn sie Untertitel nicht 1:1 anbieten sowie alle Nachrichtensendungen und Kindersendungen direkt im Fernsehen mit Gebärdensprache.
Was haben Sie in den letzten Jahren beim Thema Barrierefreiheit beobachtet – positiv wie negativ?
Seit 2009 blogge ich nun. Das Bewusstsein ist gestiegen, aber man scheut sich nach wie vor, die Umsetzung als selbstverständlich zu betrachten. Deutschland wird sich bei der Staatenprüfung 2020 auf die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention wie immer eine scharfe Rüge abholen, weil Deutschland einfach nicht der Verpflichtung nachkommt, obwohl das Geld dafür eigentlich da ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind