Akademiker demonstrieren in Marokko: Der Musterschüler im Maghreb
Der marokkanische Verein arbeitsloser Akademiker demonstriert Woche für Woche gegen Arbeitslosigkeit und Vetternwirtschaft. Den König hinterfragen sie nicht.
MEKNES taz | Mittlerweile haben sich die Leute daran gewöhnt, wenn wieder einmal die Straße von der Medina zur Ville Nouvelle, der französisch-kolonialen Neustadt, wegen der unangemeldeten Demonstrationen für eine Stunde gesperrt wird.
Ein Taxifahrer zeigt sich demonstrativ unbeeindruckt: „Wenn diese faulen Menschen dort sitzen bleiben wollen, bitte! Die wissen doch gar nicht, was sie an unserem Land haben“, kommentiert er das Sit-in und bremst abrupt, um einen Polizisten gratis ein Stück mitzunehmen. „Ich mache nur das, was mir von oben befohlen wird“, erklärt der junge Mann in der neuen Uniform, „vor einem Jahr haben sie uns gesagt: knüppelt sie nieder. Heute sollen wir sie vor dem Verkehr schützen“, der Polizist fährt seine Unterlippe aus, zuckt mit einer Schulter und gibt ein Zeichen, dass er aussteigen möchte.
Jawad Belkorchi kennt diese Indifferenz. Der 33-Jährige ist der Anführer einer kleinen Gruppe Akademikerinnen und Akademiker. Seit Monaten demonstrieren sie und andere am zentralen Pariser Platz von Meknes für Arbeit. Er hat schon das Gefühl, dass sich viele Leute mit den Arbeitslosen solidarisieren: „Leider unterstützen sie uns nur passiv. Sie sagen mir immer: Ich habe Angst. Finden es aber gut, dass wir auf die Straße gehen.“
In der 1-Millionen-Einwohner-Stadt Meknes und ihrer Region zählt der Verein gerade mal 35 Menschen, die sich für eine Veränderung organisiert engagieren. Darunter viele Söhne mit ihren Müttern. Dabei sind die Forderungen klar: „Wenn wir Arbeitsplätze bekommen und die Vetternwirtschaft aufhört, lösen wir unseren Protest auf“, stellt Jawad fest. Der Diplomphysiker mit dem Palästinensertuch um den Hals weiß, dass die Erfolgschancen bescheiden sind. Trotzdem scheint er entschlossen: „Die Revolution in Tunesien ging auch von einem jungen arbeitslosen Akademiker aus.“
Fotos für Facebook
Am vergangenen Sonntag sind wie jede Woche tausende Menschen in Marokko auf die Straße gegangen, von den meisten Medien unbeachtet, in Marokko, aber auch anderswo. Zum ersten Mal hatte die Reformbewegung "20. Februar" einen Toten zu beklagen. Kamal Ammari erlag vor einer Woche seinen schweren Verletzungen, die ihm Polizisten in der Küstenstadt Safi am Atlantik bei einer Demonstration zugefügt haben. Der 30-Jährige war zwar Mitglied der islamistischen Strömung "Recht und Gerechtigkeit", trotzdem steht er nun auch für linke Demonstranten als Symbol für den Kampf David gegen Goliath.
Nun hat um den Todesfall eine Medienschlacht begonnen: Während offizielle Behörden behaupten, dass Ammari durch eine unbehandelte Lungenentzündung zu Tode kam, präsentieren Aktivisten ein Internetvideo, auf dem er mit starken Verletzungen vor allem im Gesicht gezeigt wird. Es wurde auf einem Krankenhausflur aufgenommen, kein Arzt war bereit, Kamal Ammari zu behandeln. Wie der Nachrichtensender al-Dschasira berichtet, weist auch die Familie des Verstorbenen die offizielle Diagnose als erlogen zurück.
Zwar hat König Mohammed VI. schon im März Verfassungsreformen angekündigt und dafür eine Kommission eingesetzt. Den Aktivisten gehen diese Maßnahmen aber nicht weit genug. Sie fordern den Sturz der Regierung, die Entmachtung des Königspalastes und soziale Reformen.
Viele Menschen bleiben einen Augenblick lang stehen und schauen sich das Sit-in vor dem legendären Kino „Cinema Camera“ an. Einige davon zücken ihre Handys und fotografieren für Facebook oder die Familie daheim. „Wir sind alle mit uns selbst beschäftigt“, sagt Hussein. Der 18-jährige Schmiedlehrling ist Analphabet. Seine Eltern waren der Meinung, dass er nach der 3. Klasse die Schule verlassen sollte, um etwas „Vernünftiges im Leben“ zu lernen.
Hussein repräsentiert ein millionenfaches Schicksal in Marokko, das eine zwar seit Jahren rückläufige, aber mit 40 Prozent immer noch hohe Analphabetenrate produziert. „Meine Eltern sind beide krank, sie wohnen in einem Drecksloch, und ich muss sie dort rausholen“, erklärt er. „Wenn es gut läuft, verdiene ich am Tag 40 Dirham“, umgerechnet sind das 4 Euro, „das reicht gerade mal, um unsere Propangasflasche zum Kochen aufzufüllen.“ Dabei ginge es ihm noch relativ gut: „Die Familie meines besten Freunds musste letzten Winter die Strohfüllung ihrer einzigen Matratze kochen und essen.“
In Marokko regiert der König. Das ist die umfassendste Beschreibung des politischen Systems. Seit 1999 ist Mohammed VI. an der Macht, seitdem „haben sich viele Dinge verbessert“, heißt es Tag für Tag im Staatsfernsehen: Mehr Frauenrechte, viele Infrastrukturprojekte und ein bisschen Aufarbeitung der Gräueltaten seines Vaters Hassan II. Auch deswegen ist Marokko trotz noch bestehender Missstände der Musterschüler im Rahmen der Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union und der amerikanischen außenpolitischen Strategie.
Die marokkanische Wochenzeitschrift TelQuel titelt parallel zu den Umbrüchen in Tunesien und Ägypten mit der Schlagzeile: „Fass meinen König nicht an“. Das Magazin, das auch von der staatlichen Zensur gezügelt wurde, hat sich vom offiziellen Slogan, der nach den Terroranschlägen von 2003 in Casablanca das Land dominierte, inspirieren lassen: „Fass mein Land nicht an“.
Über den König oder dessen Beziehungen zum Westen möchte Hussein lieber nicht sprechen - wie die meisten Marokkaner. Nachdem er einige Minuten nachgedacht hat, versucht er sich aber in einem Vergleich zur postrevolutionären Lage in Tunesien und Ägypten: „Vielleicht liegt es daran, dass die meisten hier nicht lesen und schreiben können“, er sei ja selbst nur ein kleiner Mann und verstehe nichts von all dieser Politik: „Ich muss mich um mich kümmern“, sagt Hussein.
Der junge Schmied müsste eigentlich vor einer halben Stunde bei einem Kunden am Ende der Stadt gewesen sein, deswegen macht er sich hastig auf den Weg. Zu Fuß. Denn ein Taxi für umgerechnet 20 Cent ist ihm zu teuer. Bei der Verabschiedung zögert Hussein, seine Hand zu reichen. Sein kurzer, aber arbeitsintensiver Lebenslauf hat sich in Form von tiefen verhornten Narben auf seinen Händen verewigt.
Während die arbeitslosen AkademikerInnen zwei Verkehrspolizisten zwingen, Autos und touristische Pferdekutschen um einen großen Kreisel umzuleiten, werden sie von einer gleichgroßen Gruppe junger Leute beobachtet. Der gekachelte Pariser Platz ist allgemein ein angesagter Treffpunkt der Jugend von Meknes, und viele der unbeeindruckten Zuschauer sind ebenfalls Hochschulabsolventen, die meisten haben auch keine Arbeit.
Fatima bestätigt die starke Anbindung an das marokkanische Staatsoberhaupt. Zwar fieberte die junge Studentin vor einem guten Vierteljahr mit den Leuten auf dem Tahrirplatz in Kairo mit, aber: „Das ist gar nichts für uns“, konstatiert sie vor ihren Freunden, „die haben sich doch gegenseitig erstochen.“ Fatima ist 29 Jahre alt, sie lernt zurzeit Deutsch und möchte in Europa weiter Finanzwesen studieren. So möchte sie der marokkanischen Arbeitslosigkeit den Rücken kehren. Die anderen nicken. „Alle wollen nach drüben“, sagt sie und macht einen Witz, dass sich neulich wieder eine Bekannte von ihr über das Internet einen alten, hässlichen „Christen“ - wie in Marokko Europäer genannt werden - angeln konnte.
„Es liegt nicht am König“
Trotzdem ist auch Fatima mit der allgemeinen Situation nicht zufrieden: „Aber wenigstens können die demonstrieren, wenn sie genügend Zeit dafür haben, das konnte man in Tunesien und Ägypten vorher nicht.“ Sie zeigt auf die Demonstranten und lacht, einige haben es sich nämlich etwas gemütlicher gemacht. Die verschleierte junge Frau macht dann aber doch einen verhängnisvollen Vergleich: „Es muss schon etwas Radikales passieren“, denkt sie laut nach, „bei der Französischen Revolution musste auch der König geköpft werden, bis etwas geschah.“ Diese Aussage ist Anlass genug, dass die Hälfte der Gruppe kommentarlos den Ort verlässt und die andere Hälfte versucht, die nervöse Situation mit Witzen zu überbrücken. „Es liegt nicht an unserem König“, interveniert Rida, der dem Anschein nach Fatimas Freund ist: „wir lieben ihn.“
Am Geburtstag des Propheten war Meknes in Aufruhr, nicht wegen politischer Proteste wie mittlerweile in vielen anderen nordafrikanischen und arabischen Ländern. Es ist die alljährliche Wallfahrt zu den zahlreichen Heiligenschreinen in Meknes, die die Stadt aus allen Nähten hat platzen lassen. Für drei Tage wächst dann die Einwohnerzahl auf geschätzte 2 Millionen an. Seitdem gehen die Menschen auch hier Woche für Woche auf die Straße. Wie in Trance und immer auf Abruf. An jedem dritten Sonntag im Monat ist dazu großer „Tag des Zorns“.
Der Verein arbeitsloser AkademikerInnen sieht in dieser Zeit eine Chance, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, und startet immer wieder Umzüge von der Medina in die Ville Nouvelle. „Ihr habt euren Kindern Arbeit gegeben, und die Kinder des Volkes sind leer ausgegangen“, ruft die Menge in die Luft und kommt auf dem historischen Platz in der Altstadt nur mit Mühe gegen die Trancemusik der Oboenspieler an. „In Marokko kann man mittlerweile alles mehr oder weniger offen kritisieren, außer Mohammed VI.“, erklärt Jawad später. Die Demonstranten nutzen diese Freiheit bis zum Letzten aus und beschweren sich vor allem über den Premierminister Abbas al-Fassi, der nicht wenige hohe Ämter mit eigenen Familienmitgliedern und Freunden und mit dem Segen des Königs besetzt hat.
Der harte Kern marschiert immer mit, spontan kommen aber genügend andere junge Menschen dazu, so dass die Kundgebungen auffallen. Von Routine kann man mittlerweile sprechen, die allerdings Gefahr läuft, im Sande zu verlaufen: „Wie so vieles in unserem Land“, kommentiert Jawad. Zumal die Geheimpolizei nach dem Anschlag auf ein touristisches Café in Marrakesch im April mehr Präsenz zeigt denn je.
Für Jawad heißt das System zu stürzen in erster Linie, Arbeitsplätze für alle bereitstellen. „Gern hätten wir eine Monarchie wie in Großbritannien oder in Spanien“, erklärt er seine persönliche Ansicht, „ich möchte aber nicht den König stürzen, nur das System“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kürzungen im Kulturetat von Berlin
Gehen Kassiererinnen in die Oper?
FDP und D-Day
Staatstragende Partei, die von Kettensägenmassakern träumt
Privatjet auf Sylt besprüht
Haftstrafen für Letzte Generation – ohne Bewährung
Bundestag debattiert Gewalthilfegesetz
Hoffnung für Frauenhäuser
Pressefreiheit in Israel
Bibis Medien-Blockade
Offensive in Syrien
Ist ein freies Syrien möglich?