Afghanische Taliban in der Offensive: Ruhe vor dem großen Knall
Mit ihren jüngsten Angriffen zeigen die Taliban, dass sich ihre Ausbildung und Koordination deutlich verbessert haben. Ihren Angriffswellen fallen im Schnitt zehn Polizisten pro Tag zum Opfer.
BERLIN taz | Zum ersten Mal haben afghanische Aufständische simultan Angriffe in drei Städten des Landes ausgeführt. Am Dienstag griffen mit Sprengstoffwesten, Panzerfäusten und Schusswaffen ausgerüstete Kämpfer Ziele im südostafghanischen Gardes sowie den Flugplatz im ostafghanischen Dschalalabad an, der auch US-Truppen als Stützpunkt dient. Dabei kamen insgesamt sechs Sicherheitsbeamte und mindestens vier Angreifer um.
In Kundus schließlich, dem Stationierungsort der Bundeswehr, drangen laut der chinesischen Agentur Xinhua Aufständische in eine Moschee ein und töteten mit einer Bombe elf Menschen.
In Gardes, Hauptstadt der Provinz Paktia und gut zwei Autostunden von Kabul entfernt, versuchten sie, in Wellen in die Gebäude des Gouverneurs, der Polizei und des Geheimdienstes NDS einzudringen. Vor dem NDS-Sitz fuhr ein Auto mit fünf Insassen vor, von denen drei eine Burka trugen, wie ein Augenzeuge der taz berichtete. Zwei versuchten, die Wachen auszuschalten, um dem dritten Angreifer, der den Sprengsatz am Körper trug, Einlass zu verschaffen. Wachhabende erschossen zwei Angreifer. Der Sprengsatz detonierte jedoch noch und tötete drei NDS-Mitarbeiter. Auch in Dschalalabad griffen Polizisten rechtzeitig ein. Einer von ihnen bezahlte seinen Mut mit dem Leben. Durchschnittlich sterben in Afghanistan pro Tag zehn Polizisten.
Die Angreifer gehören vermutlich zum Haqqani-Netzwerk, einer halbautonomen Untergruppe der Taliban, die im Südosten agiert. Der Führer der Gruppe, Dschalaluddin Haqqani, ist für seine engen Beziehungen zu Pakistans Geheimdienst ISI und zu arabischen Dschihadisten bekannt. Unmittelbarer Anlass des Überfalls in Gardes könnten jüngste US-Angriffe auf die Infrastruktur der Haqqani-Gruppe sowie die Verhaftung eines offenbar wichtigen Kämpfers gewesen sein. Die Angriffe in Gardes und Dschalalabad bestätigen Einschätzungen, dass sich Ausbildung, Koordination und Planung der Taliban stark verbessert haben. Seit Februar führten sie im ganzen Land eine Reihe ähnlicher Attacken durch.
Die Angriffe sind Teil einer asymmetrischen Gegenoffensive der Taliban, die auf US-Truppenaufstockungen sowie Offensiven in verschiedenen Provinzen reagiert. Dadurch erreicht das Gewaltniveau in Afghanistan neue Ausmaße. Die Zahl gewaltsamer Zwischenfälle hat sich gegenüber dem Vergleichszeitraum 2008 etwa verdoppelt.
Vor den Wahlen am 20. August lassen diese Ereignisse Besorgnis aufkommen. Bislang hat der Talibanführer Mullah Muhammad Omar nur zum Boykott der "betrügerischen Wahlen" aufgerufen. In einigen Gegenden sollen sich Taliban sogar als Wähler registriert haben, womöglich um ein Bein in die Provinzräte zu bekommen, die parallel mit dem Präsidenten gewählt werden. Aber das ist vielleicht nur die Ruhe vor einem großen Knall. Und Haqqani sagt, Mullah Omar sei nur sein "geistiger Führer", nicht sein Kommandant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!