Ärztin Petra de Jong über Selbsttötung: "Für Menschen ohne Perspektive"
Soll es Sterbebegleiter oder eine Pille auch für gesunde Menschen geben, die ihr Leben als vollendet ansehen? Petra de Jong will die Diskussion darüber vorantreiben, auch um Missbrauch zu verhindern.
taz: Frau de Jong, was versteht Ihre Initiative unter einem "vollendeten Leben"?
Petra de Jong: Was jemand selbst als vollendet erfährt. Es bezieht sich auf ältere Menschen, ohne ein genaues Lebensalter zu nennen, die keine Perspektive mehr sehen. Sie können oft auf ein prächtiges Leben mit vielen schönen Momenten zurückblicken. Sie erleben aber beispielsweise, dass sie nicht mehr mit ihrem Vornamen angesprochen werden. Warum? Weil Partner, Freunde, Angehörigen gestorben sind. Sie sind übrig geblieben. Es gibt Ältere, die beispielsweise sagen: Ich kenne alle Seiten meiner Persönlichkeit. Ich habe alles von mir gesehen. Das Einzige, was ich als Zukunft habe, ist Verfall, Abhängigkeit, ist nicht mehr gut lesen, gut hören, mich nicht mehr gut bewegen können. Das wird als Last erfahren.
Ihre Initiative geht von Selbstbestimmung aus. Was ist, wenn Ältere sich möglicherweise als Belastung für die Gemeinschaft empfinden?
Petra de Jong, 57, ist Fachärztin für Lungenkrankheiten. Sie war auch als Zweitärztin mit Fällen von Euthanasie und Hilfe zur Selbsttötung befasst. Seit August 2008 ist sie Direktorin der "Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende" (NVVE), die in Amsterdam ansässig ist.
Wenn jemand "anderen zur Last fallen" angibt, ist das kein gutes Argument. Sollte sich jemand so fühlen, muss man ihn überzeugen, dass er keine Last ist. Diese Person hat früher für andere gesorgt. Jetzt hat die Gesellschaft die Pflicht und den Willen, für sie zu sorgen.
Was soll nach Ihren Vorstellungen passieren, wenn jemand am Tag x sein Leben als vollendet ansieht und sterben will?
Bisher sehen wir drei Wege. Einer könnte sein, dass sich Ärzte des Problems "vollendetes Leben" annehmen. Es würde als "untragbares und aussichtsloses Leiden" klassifiziert, sodass im Rahmen des Gesetzes Euthanasie oder Hilfe bei der Selbsttötung erlaubt wären. Ein zweiter Weg wäre die Einführung sogenannter Sterbebegleiter. Dafür plädiert die Bürgerinitiative. Sie denkt an Helfer, die nicht Ärzte sind, sondern zugelassene Sterbebegleiter, die Regeln unterliegen, damit die Überprüfbarkeit und die Sorgfalt sichergestellt sind. Um dies zu realisieren, müsste man die Gesetzgebung ändern. Der dritte Weg wäre der autonome. Wer über 75 ist - oder welche Altersgrenze auch immer gelten würde -, könnte mithilfe einer sogenannten "Letzte-Wille-Pille" selber beschließen, wann er sterben will. Die Gesellschaft müsste dafür sorgen, dass kein Missbrauch geschieht. Die Lösungen sind noch nicht ausgearbeitet. Die Debatte soll auch dazu dienen, dies zu tun.
Seit letztem Herbst wurden im passwortgeschützten Bereich der NVVE-Website Tipps zur Selbsttötung veröffentlicht. Was erfahren die Nutzer, und wer hat Zugang?
Wir informieren unsere Mitglieder über Medikamente, die man braucht, um sein Leben zu beenden. In welcher Dosierung sie einzunehmen sind, in welcher Reihenfolge. Mit dem Beschaffen und Sammeln der Medizin ist man eine ganze Weile beschäftigt. Deshalb sind impulsive Handlungen ausgeschlossen. Ein Buch, das diese Informationen enthielt, ist vergriffen. Kürzlich erschien ein anderes Buch im Handel.
Hatte Ihre Veröffentlichung eine Steigerung der Mitgliederzahl zur Folge?
Ja. Und normalerweise haben wir pro Tag etwa 500 Besucher, im Augenblick sind es durchschnittlich 800. Auch wegen der Debatte über das "vollendete Leben".
Wie interpretieren Sie dieses Interesse?
Die Generation, die jetzt alt wird, ist geprägt durch die Haltung "Ich will es selbst regeln können. Ich möchte nicht von jemand anders abhängig sein, der für mich festlegt, ob ich oder ob ich nicht sterben darf." Diese Generation hat auf unsere Initiative gewartet.
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