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Ärztemangel in OstdeutschlandDer Hausarzt kommt per Video

430 Hausärzte werden 2008 ihre Praxis schließen, vor allem im Osten fehlen viele. Dort steuert man nun gegen: mit Anwerbungen im Ausland und der Einstellung von Gemeindeschwestern.

Ein Auslaufmodell: der Landarzt.

Niemand kann einen Arzt in die Pampa zwingen. Und sei die Pampa noch so unterversorgt. Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sitzt in seinem Hauptstadtbüro nahe dem Berliner Tiergarten und bringt das Problem auf den Punkt: "Wer will schon in einem Ort wohnen, wo es keine Schulen, kulturellen Einrichtungen und nur schlechte Verkehrsanbindungen gibt?" Für attraktive Standortbedingungen müssten sich Städte und Gemeinden schon selbst ins Zeug legen. Findet Stahl.

Das muss für Jürgen Bartlog, Bürgermeister von Görzke, und seine 1.500 Mitbürger wie Hohn klingen. Der CDU-Politiker hat schon alles versucht, um einen neuen Hausarzt in die brandenburgische Provinz zu locken. Hier, wo früher in einer Puppenfabrik das DDR-Sandmännchen hergestellt wurde, gibt es einerseits zwar nur die B 107 und das Flüsschen Buckau - andererseits aber eine kostenlose Patientenkartei, ausgebaute Praxisräume und Mietnachlass für den Doktor. Vergebens.

Ein Arzt aus Niedersachsen hat einmal kurz am Leben und Heilen in Görzke geschnuppert, gab aber nach einem halben Jahr insolvent auf. "Der Landarzt ist offensichtlich ein Auslaufmodell vergangener Zeiten oder ein Beruf für Idealisten", sagt Bürgermeister Bartlog resigniert. Nach vier Jahren der Suche hat er die Hoffnung quasi aufgegeben - die Menschen aus Görzke fahren zehn Kilometer bis zum nächsten Arzt, Minimum.

Görzke ist überall. Allein im Land Brandenburg fehlen 170 Allgemeinmediziner. In Sachsen-Anhalt finden schon heute 35 Prozent keinen Nachfolger. In Sachsen treten in den nächsten zehn Jahren etwa 40 Prozent aller Hausärzte in den Ruhestand. Bundesweit schließen in diesem Jahr nach Schätzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KVB) 430 Hausärzte ersatzlos ihre Praxen, bis 2012 verabschieden sich weitere 1.970 Ärzte ohne Nachfolger. "Schon heute ist Ostdeutschland besonders stark vom Ärztemangel betroffen", sagt KBV-Sprecher Stahl.

Nicht jeder will die Hoffnung schon aufgeben. Im Kampf gegen den Landarztmangel formt sich allmählich eine Allianz aus Lokalpatrioten und Landespolitikern. Auch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) der jeweiligen Bundesländer machen mobil.

Zum Beispiel in Gotha: Die KV Thüringen hat sich für einen bisher einzigartigen Weg entschieden - sie nimmt auf Wunsch Einsteigern in ausgewählten Orten für maximal zwei Jahre das unternehmerische Risiko ab. Andreas Schwenn, ein ehemaliger Bundeswehrarzt, nahm den KV-Krückstock dankend an. Zwar arbeitet er wie jeder andere Arzt und muss auch genauso abrechnen. Aber er bekommt jeden Monat von der KV ein sicheres Angestelltengehalt. "Das ist zwar wenig, aber anfangs hätte ich als selbstständiger Arzt mit Krediten und eigenen Angestellten ohnehin kaum etwas verdient", sagt der 44-Jährige. Als Schwenn im Mai die Praxis aufschloss, standen die Leute schon Schlange - überwiegend waren sie jedoch völlig gesund. "Sie wollten sich bei mir nur sicherheitshalber anmelden", sagt der Mediziner mit Berliner Dialekt. "Hier in Gotha ist Land unter, viele Ärzte gehen bald in den Ruhestand oder können gar keine Patienten mehr annehmen."

Die Praxis auf Probe - im KV-Jargon "Eigeneinrichtung" genannt - ist nur ein Instrument unter vielen. Bis auf Thüringen und Berlin setzen alle neuen Bundesländer testweise auf ein weiteres Modell in Mangelregionen: Hierbei übernehmen "Gemeindeschwestern" oder "mobile Praxisassistentinnen" Hausbesuche in Dörfern, um die Ärzte zu entlasten. Am Küchentisch wird Blut abgenommen, ein Verband gewechselt oder der Blutdruck gemessen. Falls die Schwester einen Rat braucht - und nicht gerade im DSL-Loch sitzt -, kann sie per Laptop und Kamera die Hausärztin in einer Videokonferenz hinzuschalten.

Fünf bis sieben Hausbesuche am Tag machen die drei Gemeindeschwestern, die seit letztem Jahr in Südbrandenburg unterwegs sind. "Manchmal kochen sie ihren Patienten auch einfach einen Kaffee - eine genaue Aufgabenbeschreibung fehlt", räumt Ralf Herre ein, Sprecher der KV Brandenburg. Aus seiner Sicht müsse dringend geklärt werden, ob die Gemeindeschwestern auch einen Pflegeauftrag haben - und ob die Krankenkassen dafür zahlen. Ganz ausgereift ist dieses Konzept also noch nicht.

In einer Zeit, da die Engpässe nicht mehr zu übersehen sind, entwickeln Gesundheitspolitiker auch neue Ideen der Rekrutierung: So will Brandenburg gegenwärtig 20 Ärzte, die vorwiegend aus Osteuropa stammen, fitmachen für die deutsche Praxis. Zu dem Projekt gehören ein Sprachkurs und ein Praktikum in einem brandenburgischen Krankenhaus. Anfang 2009 sollen die Teilnehmer, die zwischen 40 und 50 Jahre alt sind, die sogenannte Gleichwertigkeitsprüfung ablegen. Ohne diesen Test dürfen ausländische Ärzte in Deutschland nicht praktizieren. "Ein Rezept gegen den Ärztemangel ist das wohl nicht", gesteht KV-Sprecher Herre. Schließlich ließen sich gar nicht so viele ausländische Ärzte anwerben wie eigentlich gebraucht würden.

Dennoch: Die Suche nach neuen Modellen und Herkunftsländern hat begonnen. So bemühen sich die Brandenburger intensiv darum, fehlende Mediziner in Österreich anzuwerben. Das Brandenburger Gesundheitsministerium hat im Juni eine Vereinbarung mit der österreichischen Ärztekammer unterzeichnet, wonach für fertige Medizinstudenten hüben wie drüben die gleichen Bedingungen für Weiterbildungen, Niederlassung und Förderungen gelten sollen.

Auf die österreichischen Jungmediziner, die wegen langer Wartezeiten in der Heimat keine Stelle finden, haben es auch die Sachsen abgesehen. Allerdings müssten diese frischgebackenen Ärzte in Deutschland erst mal eine Facharztausbildung machen. Ohne die können die Österreicher noch keinen Allgemeinmediziner ersetzen, wohl aber als Assistenten tatkräftig unterstützen, so die Kalkulation.

Deutsche Nachwuchskräfte will das sächsische Sozialministerium dagegen mit Stipendien ködern. Diese Strategie ist bisher einzigartig: Schon als Studenten sollen sich angehende Mediziner an das Bundesland binden. Um ein Stipendium von 300 bis 600 Euro im Monat zu bekommen, verpflichten sich die angehenden Mediziner, unmittelbar nach Studienabschluss eine Weiterbildung zum Allgemeinmediziner zu machen und anschließend mindestens vier Jahre in einem unterversorgten Gebiet Sachsens zu arbeiten. Erfüllen sie ihre Pflichten nicht, müssen sie das Geld zurückzahlen. Finanziert wird das Programm zu 60 Prozent von den gesetzlichen Krankenkassen, daneben von der KV Sachsen und dem Land.

Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt ist klar: Eine hoch dosierte Geldspritze wäre die wirksamste Therapie gegen den Engpass auf dem Lande. Ab 2010 soll das Honorar der Ärzte daher an den Versorgungsgrad der jeweiligen Region gekoppelt werden, so dass Ärzte in unterversorgten Gebieten besser bezahlt würden als ihre Kollegen in überversorgten Gebieten.

Mehr Geld für die Ärzte in den neuen Bundesländern sei auch bitter nötig, heißt es bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Nach KBV-Statistiken versorgen die Ärzte im Osten gemessen an der Arbeitszeit 120 Prozent der Patienten ihrer Westkollegen, bekommen aber nur 75 Prozent des Einkommens. Mit der Honorarreform bestehe tatsächlich die Chance, dass die Ärzte im Osten künftig genauso viel verdienen wie im Westen. "Damit wäre ein wesentliches Problem gelöst", sagt KBV-Sprecher Stahl.

Schon heute zahlen einige Kassenärztliche Vereinigungen Zuschüsse an Ärzte, die in unterversorgten Regionen arbeiten - allerdings mit mäßigem Erfolg. Beispielsweise hat die KV Brandenburg in viereinhalb Jahren gerade einmal an 13 Ärzte eine Umsatzgarantie vergeben, durch die die Mediziner auf ein festes Einkommen vertrauen können. "Wir haben mit einer deutlich größeren Nachfrage gerechnet", gesteht Pressesprecher Ralf Herre. Die KV Sachsen-Anhalt hat 21 Ärzten einen einmaligen Zuschlag von 15.000 Euro gezahlt, weil sie Praxen in Mangelregionen übernommen haben. 53 weitere Ärzte holten sich eine "Halteprämie" von 15.000 Euro von ihrer Kassenärztlichen Vereinigung ab, weil sie mit 66 Jahren noch weiterarbeiten.

Das Problem bei solchen Finanzspritzen benennt KBV-Pressesprecher Stahl: "Das ist wie bei einer zu kurzen Tischdecke: Zieht man an einer Seite, ist sie auf der anderen zu kurz. Auch das Geld, das man verteilen kann, wird nicht mehr, sondern muss anderen Ärzten weggenommen werden."

Manchmal allerdings geschehen noch Zeichen und Wunder. Da hilft die kleine Geste mehr als das große Geld. Dieter Herrchen, Bürgermeister von Elsterwerda in Südbrandenburg, kann sich glücklich schätzen. Ihm erging es besser als seinem Amtskollegen aus Görzke. Denn auch ohne Geld gelang es ihm, den befürchteten Aderlass zu stoppen. "Als ich 2002 mein Amt antrat, suchten im Ort vier der fünf Hausärzte einen Nachfolger."

Seitdem hat sich einiges getan. Bürgermeister Herrchen annoncierte auf der Homepage der Stadt die freien Stellen für Ärzte, dazu mögliche Praxisräume samt Ansprechpartner. Um eine junge Frau für eine vakante Stelle zu gewinnen, half die Stadt auch ihrem Ehemann, einen passenden Arbeitsplatz in einem Handwerksbetrieb zu finden.

Sogar ihre Gebührenordnung hat Elsterwerda den Medizinern zuliebe geändert, erzählt Bürgermeister Herrchen stolz. Von der Pflicht, genügend Parkplätze nachweisen zu müssen, sind Ärzte in Elsterwerda nun befreit. An Fachärzten herrscht kein Mangel mehr, und sogar ein Düsseldorfer tauschte seine Oberarztstelle gegen eine Hausarztpraxis in Elsterwerda. Nie wieder Parkplatzsorgen - da lassen sich sogar die Wessis locken.

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