Achtelfinale der Fußball-WM: Zeit fürs Drama
Es beginnt die K.o.-Runde der WM. Und mit ihr die Dramatik des Duells vom Punkt, in dem Helden und Versager geboren werden. Beim Elfmeterschießen, der Königsdisziplin.
Die Stille. Die Anspannung. Die Entscheidung. Das archaische Duell - Auge in Auge. Die radikale Reduktion dessen, worum es letztlich geht: Sieg oder Niederlag. Und für alle reinen Ereigniszuschauer die unterhaltsamste Form des Fußballs überhaupt - das Elfmeterschießen. Von Spielern und Trainern verständlicher-, von echten Fans und Kommentatoren befremdlicherweise als "reine Glückssache" verpönt, ist es für den Betrachter, der um den Reiz von Turnieren und Pokalspielen weiß, der darin liegt, dass eben nicht immer der Beste gewinnt, ein besonderer Genuss. (Und für Sportwissenschaftler ein endloses Thema.)
Dabei ist es längst ein Gemeinplatz, dass die Rede von der "Angst des Tormanns beim Elfmeter" falsch ist, und bereits die Redewendung, etwas sei wie ein Elfmeter, zeigt an, wen Versagensfurcht plagen könnte. Für den Torwart hingegen ist der Strafstoß, mehr noch das Elfmeterschießen die einzige Situation, in der er zwar einiges richtig, aber nichts falsch machen kann.
Natürlich kann er sich über die bevorzugten Schusstechniken seiner Kontrahenten informieren. "Ayala 2 lange warten, langer Anl. rechts", stand auf Jens Lehmanns berühmtem Zettel, den ihm Torwarttrainer Andreas Köpke im WM-Viertelfinale 2006 zugesteckt hatte. Allerdings könnte man ohne Tollkühnheit behaupten, dass darauf ebenso gut das Rezept von Mama Köpkes Apfelkuchen hätte notiert sein können.
Denn das Duell mit Robert Ayala folgte zwar Köpkes Regieangaben, doch bei anderen Schützen nutzte Lehmann sein Wissen um deren Lieblingsecken nichts. Dafür hielt er gegen Esteban Cambiasso, der auf dem Spicker gar nicht verzeichnet war. Demnach hätte Lehmann vor allem dank der Verunsicherung gehalten, die er auslöste, als er ständig seinen Zettel aus dem Stutzen kramte.
Überhaupt, die Psychologie: Ganz ohne Feindstudien kann der Torwart versuchen, den Schützen durch allerlei Imponiergehabe zu beeindrucken - wie die 17-jährige Anna Felicitas Sarholz von Turbine Potsdam kürzlich im Champions-League-Finale der Frauen gegen Olympique Lyon - oder durch wildes Herumzappeln zu irritieren - unvergessen: Jerzy Dudek, der polnische Torwart des FC Liverpool, im Champions-League-Finale der Männer 2005 gegen den AC Mailand. Schließlich kann er dieselben Mittel anwenden wie der Schütze: Beobachtung, Antizipation, Täuschung.
Im Elfmeterschießen können Torhüter zu Helden werden. Aber Helden sind romantische Figuren, und die größten unter ihnen sind nicht jene, die den Bösewicht niederringen, die Prinzessin heiraten und hernach alt, glücklich und zuckerkrank werden. Die wahren Helden sind die unglücklichen Figuren: Achill, nicht Odysseus; Che, nicht Castro; Werther, nicht Harry. Das Elfmeterschießen gebiert vornehmlich diese Art von Helden.
Den langjährigen Bayern-Manager Uli Hoeneß etwa. Trotz seiner großen Erfolge mit dem FC Bayern und der Nationalmannschaft ist aus seiner Spielerlaufbahn vor allem eine Szene in Erinnerung, von der die nationale Fußballsaga zwischen den Kapiteln "Wasserschlacht von Frankfurt" und "Schmach von Cordoba" berichtet: die "Nacht von Belgrad". Im EM-Finale 1976, es war das erste Turnier, bei dem ein Elfmeterschießen Anwendung fand, drosch Hoeneß den Ball in den nächtlichen Belgrader Himmel. Oder Roberto Baggio. Bei der WM 1994 schoss er Italien fast allein ins Finale, nur um dort den entscheidenden Elfer hoch übers Tor zu donnern.
Der König des Elfmeterversagens aber ist der heutige Achtelfinalgegner der Deutschen: England. Denn während die DFB-Teams nach 1976 bei Europa- oder Weltmeisterschaften sämtliche ihrer fünf Elfmeterduelle gewannen, siegte England nur einmal, nämlich im Viertelfinale der Heim-EM 1996. Allerdings währte die Freude nicht lange, denn bereits im Halbfinale scheiterte man wie bei der WM 1990 an Deutschland. Die Namen der Fehlschützen (1990: Stuart Pearce und Chris Waddle, 1996: Gareth Southgate) weiß heute noch jeder englische Teenager aufzusagen.
Ähnlich schlecht (1:4) sieht die Bilanz der Niederländer aus: Grund genug zur Annahme, dass der Mangel an guten Torhütern nicht oder nicht allein die englische Elfmetermisere erklären kann. Davon ist auch der norwegische Sportpsychologe Geir Jordet überzeugt, der im vorigen Jahr eine Studie über das Abschneiden acht europäischer Nationalmannschaften seit 1976 vorlegte.
Sein Befund: Je größer die Anzahl berühmter, hoch bezahlter und mit Titeln dekorierter Spieler, desto größer die Wahrscheinlichkeit des Versagens. "Elfmeterschießen ist der extremste Fall von Leistungsdruck im Fußball, wenn nicht gar im ganzen Sport", schrieb Jordet im Journal of Sport and Sciences. Unter dem größten Druck aber stünden die Stars. Und von diesen habe kein europäisches Nationalteam in den letzten Dekaden so viele in ihren Reihen gehabt wie die Niederlande und England.
Ein weiterer psychologischer Umstand ist die Situation vor dem Elfmeterschießen. Oft gewinnt jene Mannschaft, die sich im Lauf des Spiels schon als Verlierer wähnte: Beispielsweise auch die Türkei im EM-Viertelfinale 2008, als Kroatien zwar in der vorletzten Minute der Verlängerung in Führung ging, die Türken aber noch zum 1:1 ausgeglichen.
Um all diese Dinge wissend haben Fabio Capello und Joachim Löw in diesen Tagen das Elfmeterschießen üben lassen. Doch längst nicht alle Trainer halten das für sinnvoll. Der deutsche Reservetorhüter Hans-Jörg Butt vom FC Bayern, der, selten genug, auch als Schütze den Ruf des Elfmeterexperten genießt, formuliert die Gegenthese so: Man könne zwar die Bewegungsabläufe verbessern, aber "die psychische Belastung eines Elfmeterschießens kannst du nicht trainieren, weil du beim Training eben nichts zu verlieren hast".
Ein Elfmeterschießen lässt sich noch weniger vorhersagen als der Rest einer Partie. Alles ist möglich! Selbst die abwegig klingende Vorstellung, dass England ein Elfmeterschießen gewinnt. Genau darum ist es ja so bezaubernd.
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