Abschiebung nach Vietnam geplant: Rauswurf ins Ungewisse
Rund 100 Vietnamesen sollen Ende November nach Vietnam abgeschoben werden. Für Thau Mi bedeutet das die Trennung von ihrer ersten Liebe, für Truong Xuanho ist es die Chance auf einen Neuanfang.
Von ihren Bett aus kann Thau Mi das Rotschwänzchen im Gefängnishof beoachten. Sie sieht, wie es im Rasen nach Futter pickt und das Gefieder putzt. In ihrem bisherigen Leben hatte die 19-jährige schüchterne Vietnamesin nie Zeit, Vögel zu beobachten. "Ich musste lernen und arbeiten. Arbeiten und lernen", sagt sie in unsicherem, aber fließendem Deutsch. Seit Mitte September sitzt Thau Mi im Abschiebeknast Grünau. Sie gehört zu den rund 100 Vietnamesen aus mehreren Bundesländern, die am 29. November per Massenabschiebung nach Vietnam verfrachtet werden. 42 von ihnen sind in Grünau eingeschlossen. Vietnamesen sind dort die mit Abstand größte Insassengruppe. Sie stellen zwei Drittel der Häftlinge.
Die 19-Jährige ist modern gekleidet und frisiert. "Ich möchte in Deutschland bleiben", sagt sie. "Hier sind die Menschen freundlich und offen. Hier ist es nicht so heiß wie in Vietnam. Und man kann hier besser Geld verdienen." Wie fast alle vietnamesischen Abschiebehäftlinge stammt Thau Mi aus dem bitter armen Zentralvietnam. Internationale Investoren machen einen Bogen um dieses unfruchtbare Stück Erde. Fast jeden Herbst wird die Region von einer Hochwasserkatastrophe heimgesucht, bei der viele Familien ihre ganze Habe verlieren. Das Grundwasser versalzt, sodass die Landwirtschaft nichts mehr einbringt. "Meine Mutter hat zu mir gesagt, ich habe in Europa eine Zukunft, nicht in meinem Dorf", erinnert sich Thau Mi. Damals war sie 15, hatte die Schule beendet und wurde zu einem Onkel nach Warschau geschickt. Wider Erwarten verstand sie sich nicht mit dem Onkel. "Ein anderer Verwandter brachte mich nach Berlin." Sie kam in Marzahn unter, in einem Heim für minderjährige, unbegleitete Asylbewerber.
Thau Mi passt wie die meisten vietnamesischen Flüchtlinge nicht in das Raster des Asylverfahrens. Sie ist nicht politisch verfolgt, sondern Umweltflüchtling. Folglich wurde ihr Asylantrag abgelehnt. Doch solange sie zu jung war für eine Abschiebung, durfte sie bleiben. Thau Mi besuchte eineinhalb Jahre lang in Berlin die Schule. Nicht täglich, wie sie eingesteht, denn sie wollte auch Geld verdienen. Sie fand eine Landsfrau, die sie als Kosmetikerin und Friseurin ausbildete und in deren Kosmetikstudio sie arbeite. Schwarz, denn Asylbewerbern ist das Arbeiten verboten. Von dem Geld schickte sie der Mutter etwas. Damit die überleben konnte.
Unter den Vietnamesen, die Berlin abschieben will (siehe Text links), ist ein Mann, der laut Krankenakte an einer chronischen Hepatitis C erkrankt ist. Der Mann sitzt bereits in der Abschiebehaft in Grünau. Das erfuhr die taz von dem Jesuitenpater Ludger Hillebrand, der dort Seelsorger ist. Bevor der Vietnamese in den Abschiebeknast kam, verbüßte er rund zwei Jahre Strafhaft in einer Berliner Justizvollzugsanstalt. Nach eigenen Angaben habe er sich die Hepatitis dort geholt. Er sagt, er sei gesund dort eingeliefert worden. Nach mehreren Monaten Haft hätte ein Arzt bei ihm Hepatitis diagnostiziert.
Laut Ludger Hillebrand legt auch die Krankenakte des Mannes diese Version nahe. Hillebrand zufolge wurde die Hepatitis weder in der Strafhaft noch in der Abschiebehaft mit Medikamenten behandelt.
Eine Sprecherin der Justizverwaltung bestätigt dies. Allerdings sei in diesem Fall eine Behandlung der Hepatitis C mit Medikamenten nicht notwendig gewesen. Die für die Abschiebegewahrsam zuständige Polizei will sich aus Gründen der Persönlichkeitsrechte nicht zu dem Fall äußern. Hepatitis ist übertragbar durch Sex, gemeinsam benutzte Spritzenbestecke, aber auch durch mangelnde Hygiene auf der Toilette und beim Geschirrspülen.
Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst fordert, "dass der Mann wegen seiner Hepatitis nicht nach Vietnam abgeschoben wird. Als einfacher Bauer hat er dort nicht die Möglichkeit, sich behandeln zu lassen, und würde sterben." Auch der grüne Abgeordnete Benedikt Lux spricht von einem Härtefall und fordert, auf die Abschiebung zu verzichten.
Vietnam verfügt nicht über ein solidarisch organisiertes Gesundheitssystem. Wer krank ist, muss zahlen. Wirksame Medikamente gegen Hepatitis gehören nach Angaben des Vereins "Medizinische Hilfe für Vietnam" nicht zur Standardausstattung vietnamesischer Apotheken, sondern müssen privat und vergleichsweise teuer aus dem Ausland besorgt werden. MAI
Auch der Mittzwanziger Truong Xuanho ist für die Massenabschiebung vorgesehen. Anders als seine Landsfrau kann er den Termin kaum erwarten. "Schreiben Sie in der Zeitung, dass es nicht in Ordnung ist, dass ich so lange auf meine Heimkehr nach Vietnam warten muss", sagt er auf Vietnamesisch. "Ich will seit einem Jahr zurück, aber die Bürokratie dauert so lange."
Deutsch hat Truong Xuanho in den drei Jahren, die er hier lebt, nicht gelernt. Der junge Mann, der nur fünf Jahre zur Schule gegangen ist, ist innerlich nie in Deutschland angekommen. Er hat auf der Frankfurter Allee Zigaretten verkauft. "Im Winter habe ich gefroren. Im Regen wurde ich nass. Und ich hatte immer Angst vor der Polizei", beschreibt er seinen Alltag. Um seine Schlepperschulden in Höhe von 10.000 Dollar abzuzahlen, musste er das zwei Jahre lang erdulden. Seitdem will er nach Hause. Zurück in sein Dorf, seine Mutter und die ganze Familie wiedersehen. "Zu Hause ist das Leben lockerer." Nach Deutschland sei er aus Abenteuerlust gekommen. Und um Landsleuten nachzueifern, die im Ausland reich geworden waren. Eine Fehlentscheidung war das, sagt er.
Ludger Hillebrand ist Seelsorger im Abschiebeknast und gehört zu den wenigen, die regelmäßig Kontakt zu Abschiebehäftlingen haben. "Es ist gar nicht so untypisch, dass Abschiebehäftlinge zurück nach Vietnam wollen", sagt er. Die meisten kämen nach Deutschland, um hier Geld zu verdienen für eine spätere Existenz in Vietnam. In der Regel heißt das: illegaler Zigarettenverkauf; aber auch durch Schwarzarbeit in vietnamesischen Firmen, als Kindermädchen in vietnamesischen Familien oder als Prostituierte würden einige ihr Geld verdienen. Wem es gelungen sei, fünf bis sechs Jahre zu bleiben, "der will fast immer zurück und verspricht sich mit dem nach Vietnam verschickten Geld gute Startchancen".
Hohe Schlepperschulden
Panik erlebt Hillebrand immer wieder, wenn ein Vietnamese abgeschoben werden soll, der weniger als zwei Jahre in Europa gelebt hat. "Diese Leute haben ihre Schlepperschulden noch nicht abgezahlt. Ihre Familien haften mit ihrer letzten Habe dafür. Sie haben alles verloren." Dass eine Asylbewerberin wie Thau Mi sich in die deutsche Gesellschaft integrieren konnte und dauerhaft hier leben will, aber nicht darf, sei sehr selten - und dann besonders tragisch, sagt Hillebrand.
Mit der Ausnahme eines kranken Mannes (siehe Text rechts) sind die sechs Frauen und 36 Männer aus Vietnam unabweisbar ausreisepflichtig. Juristisch sieht der Pater keine Chance, die Abschiebungen abzuwenden: Sie sind als Asylbewerber gekommen, waren aber in Vietnam politisch nicht verfolgt.
Thau Mi, die zu den wenigen hier integrierten Abschiebehäftlingen gehört, hat versucht, über die Härtefallkommission ein humanitäres Bleiberecht zu bekommen. Das gibt es sozusagen als Belohnung für besonders gute Integrationsbemühungen und die Prognose, eines Tages ohne Sozialleistungen in Deutschland zu leben. Doch ihr Antrag wurde abgelehnt, weil Thau Mi die Schule nur unregelmäßig besucht hatte. Die 19-Jährige hätte eine andere Chance gehabt, in Deutschland zu bleiben: Hier hat sie ihre erste Liebe erlebt zu einem gleichaltrigen Vietnamesen, der in Deutschland geboren wurde. Hätten die beiden geheiratet, hätte sie bleiben können. "Wir fühlten aber beide, dass wir zum Heiraten zu jung sind", sagt die schüchterne Frau.
Wiederkehr unmöglich
Eine Chance, später mit ihrem Freund in Deutschland zu leben, hat sie nicht. Abgeschobene müssen die Kosten für die Abschiebung und einen Teil der Kosten der Abschiebehaft begleichen, bevor sie wieder nach Deutschland reisen dürfen. Thau Mi wird bis zur geplanten Abschiebung zweieinhalb Monate in Abschiebehaft gesessen haben. Ein Tag kostet sie 65,26 Euro. Praktisch ist das ein lebenslanges Wiedereinreiseverbot.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen