Abgeordnetenleben: Der nette Herr Kindler
Der grüne Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler wäre der Polit-Aufsteiger des Jahres - wenn das Wort nicht so unpassend klänge für jemanden, der kein Karrierist ist und den nichts so sehr bewegt wie das Gerechtigkeitsthema.
Im Laufe des Jahres ist Sven-Christian Kindler also zu einem Menschen geworden, der beim Sommer-Straßenfest Sakko trägt. Naja, sagt er, 25 Jahre ist er jetzt, er habe ja auch schon vorher bei Bosch gearbeitet, im Controlling. Und deren Dress-Code… aber da muss er selber lachen. Und schließlich ist er auch nicht mit Anzug, Schlips und Lederköfferchen in Hannover-Linden aufgekreuzt, altes Arbeiterviertel und alternativer Puls der Landeshauptstadt, und, das ist fast selbstverständlich: Die eine WG hat Kindler dort. Die andere hat er in Berlin, der Herr Bundestagsabgeordnete.
Kindler ist auf eine gewisse Weise Aufsteiger des Jahres. Wobei Aufsteiger eben viel zu karrieristisch klingt. Und das passt so gar nicht. Im Gegenteil, "authentisch zu bleiben", hehres Ziel im Berliner Betrieb, klappt ziemlich gut: Sven Kindler flößt den SchülerInnen der Politik-Kurse in und um Hannover, die er besucht, keine Angst ein, fast in jeder sitzungsfreien Woche einen und auch, wenn in der Vorwoche bis tief in die Nacht über Rettungspakete getagt worden ist. "Berlin ist schon stressig", sagt er, und klar: Wenn er von 20-Stunden-Tagen erzählt, das haben die angehenden AbiturientInnen nicht immer alle auf dem Schirm, dass Abgeordneter sein auch anstrengend sein kann, da kommt ein kleiner Hauch Ehrfurcht. Aber man spricht dieselbe Sprache, nach wie vor. Die Diskussion stockt nur anfangs. Dann gehts zur Sache, wenig distanziert, und sauer wird Kindler bei Bildzeitungswahrheiten über angebliche Sozialschmarotzer und faule Hartz-IV-Empfänger: "Das ist teilweise unglaublich, was da für Sprüche kommen."
Aber Aufsteiger passt eben doch. Denn zu Beginn der Legislatur fiel er unter die Kategorie "jüngster Abgeordneter", nicht des Bundestags, aber seiner Fraktion, den Grünen. Und "jüngster Abgeordneter" ist so eine problematische Medienkategorie, aus der man sich erst einmal befreien muss. Zustande kommt die so: Parlament frisch gewählt, die Fraktionen sortieren sich noch, Koalitionsvertrag unfertig, nach außen tut sich nix. Trotzdem will die Politikseite gefüllt sein. Also heißts griffige Merkmale suchen. Und in der Folge erscheinen dann Jüngster-Abgeordneten-Porträts, getragen von mütterlicher Sorge oder väterlichem Wohlwollen. "Kindler sieht mit seinem schmalen Gesicht und seinen großen Augen noch jünger aus, als er ist", steht dann in der FAZ, "aber wenn er darüber spricht, was ihn zur Politik gebracht hat, dann klingt er schon wie seine professionellen Kollegen." Meist wars das dann für die Legislatur, oder wissen Sie vielleicht noch, was der Braunschweiger Florian Bernsdorff im Bundestag macht und für wen? Von Nadine Schön geborene Müller ganz zu schweigen.
Kindler hat nicht geheiratet, sondern gearbeitet: Er sitzt im Haushaltsausschuss, der immer schon viel zu tun hatte - und erst recht im Jahr der Rettungspakete. Zwei Plätze haben die Grünen dort. "Es war relativ schnell klar, dass ich da rein komme", sagt er.
Naja. Das liegt zwar nahe, weil er BWL studiert hat. Aber es passiert jüngsten Abgeordneten halt sonst nie: die Geldflüsse zu kontrollieren und mitzusteuern - der Haushaltsausschuss ist die Herzkammer des Parlaments. Schaltzentrale. Machtposition. Und die Grünenfraktion ist die größte aller Zeiten. "Ich habe gesagt, was ich will und warum", erklärt Kindler, nämlich dass er Finanzpolitik als soziale Herausforderung sieht und dass man bei der Vermögensverteilung "gegensteuern muss". Und dann war er drin.
Und muss seither für eine differenzierte Degression der Solarförderung streiten, vergeblich, darf brandmarken, dass Nordrhein-Westfalens Junge Union im Rahmen der neuen Links-Extremismus-Prävention von Kristina Schröder (CDU) Saufausflüge nach Berlin unternimmt, auf Kosten der Steuerzahler - peinlich für die Ministerin. Als einen Erfolg des Jahres nennt er die gestoppte Kürzung der Mittel gegen Rechtsradikalismus. "Opposition heißt, das Schlimmste zu verhindern", sagt Kindler.
Das Gerechtigkeitsthema überwiegt. Der Sozialhaushalt, die zu niedrigen Hartz-IV-Sätze und die unerträglichen Sanktionen, das Menschenrecht auf eine würdige Existenz, das "nicht gekürzt werden darf". Manchmal sieht das, geschrieben, aus wie Parolen. Aber das ist das Thema, bei dem er sich auf fast befremdlich sachliche Art in Rage reden kann. Ein emotionaler Glutkern. Das zentrale Anliegen. Gefühlige Politik macht er deshalb nicht. "Das Gegenteil eines Volkstribuns", nennt Helge Limburg, auch grün, aber Niedersachsen-Landespolitik, seinen Kollegen. Die beiden sind seit ewig und eins befreundet.
Das ist auch ein Sprachproblem, kein persönliches, aber eins des politischen Themas. Haushaltspolitik ist abstrakt. Und sie braucht dafür einen eigenen Code aus Ziffern, Summen und Prozenten. Technokratisch, beschweren sich die einen. Die anderen dämmern weg. Und auch die Parteispitze kann nicht immer folgen, wenn Kindler loslegt und ihr Schlagwort vom "Green New Deal" mit Zahlen konkretisiert, und dabei gar das Schreckenswort von Steuererhöhungen gebraucht wie diesen Sommer. Igitt! Wo doch die Renate noch was werden will! "In der Politik", sagt Kindler trocken, "kanns ja nicht nur danach gehen, der Bevölkerung auf den Mund zu schauen." Ein kluger Satz. Aber wer gewinnt denn Wahlen ohne Illusionen?
Naja, wird man sehen. Das schwarz-gelbe Spektakel in Berlin, vor Jahr und Tag als Traum-Ehe annonciert, begeistert nicht mehr jeden. Und die einstige Schwärmerei von rot-grünen Projekten - hat nur die Enttäuschung vergrößert. Realisten trauen Schlagwörtern nicht, und ihre Visionen sind nicht mit bonbonrosa Harmonietapeten grundiert, sondern mit grauen Machbarkeitserwägungen. Sie haben aber den unschätzbaren Vorteil, dass die Zeit für sie spielt. Immer. Und erst recht, wenn sie erst 25 Jahre jung sind.
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