piwik no script img

Ab 1945 konnte es nur noch besser werden. Ein Abend mit einem AchtzigjährigenZigaretten ohne Filter

Erwachsen

von Martin Reichert

Beim letzten Besuch in der alten Heimat, irgendwo zwischen Hunsrück, Eifel, Mosel und Westerwald, berichtete mein Vater zu fortgeschrittener Stunde, wie es in seinem kleinen Dorf zur Abschaffung der schulischen Prügelstrafe gekommen war. Irgendwann im Laufe des Jahres 1945 – mein Vater war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt – waren die Männer, die den Krieg überlebt hatten, in das kleine Dorf zurückgekehrt. Und eines Morgens hatten sich dann diese Männer zu einer Gruppe zusammengefunden, um dem zu dieser Zeit schon fast greisen Dorfschullehrer einen Besuch abzustatten: „Von nun an ist Schluss“, hatten sie ihm gesagt, „Sie fassen keines unserer Kinder je mehr an.“

Und von da an war dann auch Schluss. Ohne, dass jemand von der seinerzeitigen Besatzungsmacht oder gar der örtlichen Schulbehörde eingegriffen hätte – welche Behörde? Die Eltern hatten selbst gehandelt. Aus und vorbei. Dabei bestand das körperliche Züchtigungsrecht für Lehrkräfte noch bis längstens 1973, also bis in das Jahr meiner Geburt.

Wie lange ist es jetzt her, dass die rot-grüne Bundesregierung beschlossen hatte, dass Kinder in der Familie nicht mehr geschlagen werden dürfen? Das „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“ in der nun geltenden Fassung ist gerade mal fünfzehn Jahre alt, es garantiert den Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.

Aber zuvor ging noch einiges. So erinnere ich mich, dass sogar in meiner Grundschule noch vereinzelt geschlagen wurde, das war in den späteren Siebzigern, nach dem Verbot. Ungleichzeitige Menschen waren das, die geschlagen hatten. Männer wie Frauen. Solche, die aus einer anderen Zeit kamen und trotzdem noch da waren. Gezeichnet von Alkohol und unzähligen Zigaretten ohne Filter. Auf den Straßen der Städte sah man noch viele Männer, die Arm und Bein verloren hatten, Kriegsversehrte. Die Frauen trugen, so erscheint es mir heute, samt und sonders sogenannte Kittelschürzen. Es erscheint mir heute unwirklich, dass ich das noch erlebt haben soll.

Zum Abschluss des Abends erzählte mein Vater, wie unangenehm es ihm als junger Mann gewesen sei, eine Polizeiausbildung zu absolvieren, die sich von jener des Militärs eigentlich kaum unterschieden habe. Das war in den Fünfzigern. Und dass er und seine Kollegen später versucht hätten, es besser zu machen, als sie Ausbilder wurden. Das war dann in den Siebzigern, und in den Achtzigern wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass sie das überhaupt versucht hatten: Oft arbeiteten er und seine Kollegen damals in Brokdorf und Wackersdorf und es hatte was mit Wasserwerfern zu tun.

Der Abend endete irgendwann morgens um vier, und als ich erschöpft in meinem Bett lag, hatte ich verstanden, wie schön es sein kann, erwachsen zu sein. Plötzlich konnte ich diesen Menschen verstehen, der vor Kurzem achtzig Jahre alt geworden ist. Seine Motivation, sein Nöte und Ängste. Sogar sein Bemühen um eine bessere Welt, die er in Trümmern gesehen hatte, als er gerade mal zehn war.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen