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Archiv-Artikel

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON TIM CASPAR BOEHME Vom Sozio-Scanning zum Weltuntergang

Eine kleine Typologie des Abschweifens beim Musikgenuss

Irgendwie scheint mir die kulturelle Funktion des Abschweifens noch nicht hinreichend gewürdigt. Besonders bei Musik. Wer Musik als ständigen Begleiter im Ohr hat, unterwegs oder zu Hause, bekommt sie selten bewusst mit. Was völlig in Ordnung ist, die Töne gehen auch so ihren Weg. Doch um wirklich abschweifen zu können, muss man erst einmal genau hinhören.

Nach einem Wochenende voller Musikfestivals hat sich bei mir genug Material für eine kleine Abschweifungstypologie angesammelt, unsystematisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Da wäre zunächst das frei-paranoische Assoziieren. So erlebt beim Shared-Sounds-Festival im Radialsystem. Die Cellistin Frances-Marie Uitti spielte am Freitag ein fast intimes Programm aus Werken moderner Komponisten wie Giacinto Scelsi oder György Kurtág und eigenen Improvisationen. Alles prima. Mittendrin aber war ich plötzlich nicht mehr bei Uittis Spiel mit zwei Bögen, sondern ertappte mich, wie ich mir Gedanken über den Weltuntergang machte.

Weniger pathologisch, aber ebenfalls heikel erscheint mir das Sozio-Scanning. Die HouseMusik des Kammerensembles Neue Musik Berlin war dazu bestens geeignet. Mit einer Reihe neugieriger Besucher durfte ich den Musikern durch das Dynamowerk und Verwaltungsgebäude von Siemens folgen, um Kompositionen von Louis Andriessen oder Jan-Peter E. R. Sonntag zu lauschen. Das Ungewöhnliche daran: Rund die Hälfte der Zuhörer waren Mitarbeiter des Unternehmens. Während man also in einer Fabrikhalle zwischen Maschinen herumstand, an denen einige der Besucher werktags elektrische Großmaschinen zusammenschrauben, gab es Gelegenheit, die Besucher versuchsweise in übliche Kulturkonsumenten und interessierte Werksangehörige zu unterteilen. Nach einer Uraufführung wurde gelacht. Waren das Siemens-Leute aus der Verwaltung, und hören die sonst keine Neue Musik? Machen Bildungsbürger mit Konzertroutine so etwas gar nicht mehr?

Eine stark verbreitete Form des Abschweifens dürfte das musikinduzierte Wegdösen sein. Vielen Hörern ist die Sache peinlich, weil spontane Müdigkeit im Konzert oft als Ignoranz interpretiert wird. Doch manche Stücke scheinen dafür wie geschaffen, ohne dass sie deshalb langweilig sind. Sie demonstrieren vielmehr die Gewalt der Musik über den Körper. Im zweiten Teil der HouseMusik war diese Reaktion bei Mark Andres’ sehr stillem und sehr schönem Bläserstück „iv 4“ gelegentlich am eigenen Leib zu spüren. Das konnten auch die an das Publikum verteilten Ohrstöpsel nicht verhindern, mit denen man vor dem Stück kurz Einkehr halten sollte.

Schwieriger einzuordnen ist die Identifikationswut. Zurück bei Shared Sounds überfiel sie mich im Konzert des Pianisten Michael Wollny. Der junge Jazzmusiker wirft alles zusammen, was ihm gefällt, atonal geht bei ihm genauso wie Ausflüge in die Romantik. Führte oft zu Reaktionen wie: Das kenne ich doch, nach wem klingt das gleich? War der Groschen gefallen, folgte Ernüchterung: ach so, von dem und dem geklaut. Diese Form der Abschweifung halte ich für die mit Abstand am wenigsten produktive.

Nur was tun? Warten, bis der Ärger verraucht, um wieder bei der Sache sein zu können. War tatsächlich ein Höhepunkt des Wochenendes.

Zum Abschluss sollte es dann zur Fête de la Musique gehen. Ein Konzert der Berliner Band The Gecko in der Abendsonne. Das elektrisierende Quartett hatte gerade zu spielen begonnen, als es heftig zu schauern anfing. Von der treibenden Musik wurden die Gedanken abgelenkt: Ist bald Schluss mit Regen? Habe ich schon nasse Füße? Aber es gab auch Gelegenheit zu ästhetischen Erfahrungen wie dem rhythmischen Flattern eines Müllbeutels, der zum Schutz über einen Lautsprecher gezogen worden war.

Und Anlass für einen weiteren Abschweifungstypus – die umweltbedingte Digression.