AUFREGENDER ALS EIN MUSEUM: LOUIS VUITTON IN LONDON : Modeladen mit Mehrwert
TRENDS UND DEMUT
Gestern habe ich den neuen Londoner Laden, pardon, Palast von Louis Vuitton besichtigt. Habe mir bewusst die Zeit genommen und mich als Konsumentin aufsaugen und mitreißen lassen wie in einem Erlebnispark für exotische Luxus-Mutationen. Eine Geisterbahnfahrt mit gezückter Kreditkarte. Bis ich mir ein grobes Bild gemacht und alle Ecken und Winkel und VIP-Séparées gesehen hatte, war eine gute Stunde vergangen.
Fazit: Bis ins letzte Fitzelchen der speziell gewebten Teppiche will man mich hier als Kundin vergessen lassen, dass ich mich im Grunde ja nur in einer Boutique befinde. Es ist eine „Maison für Kunst und Mode“! Diese Inszenierung präsentiert sich dermaßen over the top, so aggressiv und in den Augen blendend, dass es einem die Luft nimmt. Wenn der Konsum der Teufel ist, ist dieses Haus sein Stadtpalais. Und genau so wollte ich es schreiben!
Doch ich verließ den Tempel und war erleichtert. Mitnichten liegt hier der blutende Kopf der Kunst abgeschlagen auf dem Silbertablett. Ganz im Gegenteil wird Kunst endlich dort inszeniert, wo sie ohnehin längst zuhause ist: mitten in der Statussphäre des internationalen Jet Set. Auf drei Etagen herrscht die Stimmung einer Kunstmesse, irgendwo zwischen Dubai und Düsseldorf: Eine wandfüllende Arbeit von Gilbert and George hängt neben dem Eingang zu den Herrenumkleiden, zwei Murakamis in Millionenhöhe verzieren die Schmuckabteilung, wie Deko. Weiter oben warten Basquiat, Koons und Richard Prince. Selbst Kunstlaien, die Murakami für eine japanische Tagescreme halten, werden beim Verlassen der „Maison“ denken: Das war ja aufregender als ein Museumsbesuch!
Und genau dieser Effekt ist dann doch etwas prekär, denn sollen die Konsumenten in Zukunft lieber Multifunktionsorte besuchen, in denen sie Kleider kaufen, Kinofilme sehen und Kunst gucken können? Das Luxusimperium Louis Vuitton hat zumindest die Kunstszene mit diversen Kollaborationen längst fest im Griff. Die Frage: Passt Ihnen die Größe? kann sich in der neuen „Maison“ auf alles beziehen: am Fuß, an der Hüfte, an der Wand. Und die fachliche Beratung bekommt man hier nicht mehr von charmanten Einzelhandelsprofis, sondern Spezialisten. Ehemaligen, erfolgreich abgeworbenen Mitarbeitern der Tate Gallery zum Beispiel, die einem neben Büchern im ersten Stock schicke Editionen von Anish Kapoor oder Chris Ofili in fünfstelligen Summen verkaufen.
In den Regalen stehen schwere Künstlermonografien wie anregende Einrichtungskataloge, und plötzlich, ganz klein mittendrin, sehe ich ein weißes Büchlein. Diederich Diederichsens Anwendung der Marx’schen Theorie des Mehrwerts auf die zeitgenössische Kunst! Hat das da jemand vergessen? Guerilla-mäßig untergemischt? Leider nicht. Es steht natürlich ganz bewusst da. Und es ist definitiv das höchste Maß an inhaltlichem Sprengstoff, was man in diesem Luxus-Disneyland finden wird.
■ Julia Grosse ist Kulturreporterin der taz in London