■ AUFENTHALT IN BERLIN: SERGE JTRETJAKOWS
Die gleißenden Schaufensterlichter und Geschäftsreklamen auf den Berliner Straßen und in anderen Großstädten – wovon reden sie? Die Neonröhre – purpurrot, leichenblau, seltener stechend grün – wurde zur Lichttinte, mit der die Firmen ihre Namen, Marken und Artikel auf den Häuserfassaden ausrufen. Auf sechsteiligen Leuchttafeln – an den Häusern und über den Häusern – spielen sich ganze Pantomimenszenen ab. Augen blitzen, das Oval eines Gesichtes wird umrandet, über dem Gesicht flammt ein Turban . Die Augen rotieren, halten ein und schielen auf eine mehrfarbige Aufschrift, die eine Schokolade anpreist. Was ist das? Theater? Nein. Kino? Nein. Es ist eine ganz eigene Kunst, geschaffen aus Licht und der Wollust des Marktes. Aus einer Leuchtdose, die mehrere Stadtviertel weit zu sehen ist, rieselt Seifenpulver in eine Schüssel. Der Text verrät das Rezept. Lockig steigt Dampf aus der Schüssel. Ein brauner Lumpen senkt sich in die Schüssel, um ihr Sekunden später als ein Lichthandtuch von blendendem Weiß zu entsteigen. In diesem Augenblick ist es taghell auf den Straßen und Plätzen in der Nähe der Reklame. Das Licht erlischt, und die elektrische Pantomime beginnt von vorn. Wer mit sozial geschultem Ohr genau hinhört, erkennt in dem Berliner Reklametanz den Markt von Peking. Das Licht schreit von den Wänden: „Kaufen Sie! Kaufen Sie!“
Das hellere, bessere Lampentausend trampelt mit Lichtgewalt die lispelnden, blinzelnden Leuchtschriften der weniger vermögenden Firmen ins Dunkel zurück. Frappierende, aufreizend freche Elektroschreie übertönen und ersticken die gesetzteren, aber faden Litaneien einfallsloser Unternehmen,. Die Krise hält die Firmen gepackt. Der Krieg um den Käufer ist unerbittlich. Der sorgsam gehütete Groschen muß ihm entrissen werden, koste es, was es wolle.
Doch der hält den Groschen fest.
Die Arbeiterfrau läuft von Straße zu Straße, von Laden zu Laden, um ein paar Groschen billiger einzukaufen. Und diese Hausfrau der Arbeiter-, Angestelltenfamilie ist die Hauptkäuferin in Deutschland. Sie ist es, die am ersten Tag des Weihnachtsverkaufs aufgebracht vor die Tore der Berliner Warenhauspaläste eilt, die Eingänge versperrt – eine Masse von Habenichtsen – und schreit: „Die Reichen, die hängen den Baum voll Geschenke für ihre Kinder. Wir Arbeitslosen haben kein Geld für Geschenke. Niemand soll Geschenke kaufen zu diesem verdammten Weihnachten.“...
Sergej Tretjakows Bericht über seinen Aufenthalt in Berlin erschien erstmals 1931 in „Krasnaja niva“. Die Übersetzung stammt von Fritz Mirau.
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